ISBN 978-3-936049-88-6
252 Seiten
18 €
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Cornelius
Castoriadis
Vom Sozialismus zur autonomen Gesellschaft
Über den Inhalt des Sozialismus
Ausgewählte Schriften - Band 2.1
übersetzt von Michael Halfbrodt
Der zweite Band der Ausgewählten Schriften
von Cornelius Castoriadis dokumentiert seine allmähliche
Abwendung vom Marxismus und seine sich radikalisierende Kritik
an dem auch in der vermeintlich revolutionären marxistischen
Bewegung vorherrschenden Typus von Theorie und Praxis, der
die emanzipatorische, radikaldemokratische Bewegung mehr und
mehr behindert und im „Realsozialismus“ ins barbarische
Gegenteil verwandelt hat. Die Kritik mündet in die Formulierung,
dass man sich nunmehr vor die Entscheidung gestellt sehe,
entweder Marxist oder Revolutionär zu bleiben. Der vorliegende
erste Teilband versammelt zum größten Teil erstmals
auf Deutsch neben einem ausführlichen Interview, das
Entstehungskontext und -geschichte sowie die allgemeinen Perspektiven
des Castoriadis'schen Denkens in der Zusammenschau vor Augen
führt, zentrale Texte wie die dreiteilige Aufsatzreihe
„Über den Inhalt des Sozialismus“ oder „Die
revolutionäre Bewegung im modernen Kapitalismus“,
die zu Klassikern libertärer Gesellschaftskritik und
politischen Denkens geworden sind. In ihnen werden gerade
heute wieder aktuelle Alternativen sowohl zum kapitalistischen
status quo wie zur seinerzeitigen (schein-)sozialistischen
Opposition konkret herausgearbeitet und ebenso prägnant
wie streitlustig auf den Punkt gebracht.
Rezension
Joseph Hanimann: Schöner neuer Sozialismus.
Cornelius Castoriadis übt feinste Kapitalismuskritik;
erschienen in: Frankfurter Allgemeine vom 21.01.2008
Nun das müde Lächeln einmal beiseite: Über
die Idee, alte Schriften aus den fünfziger Jahren über
den „Inhalt des Sozialismus" auszugraben, darf
offen gelacht werden. Wo Gesellschaftstheorie und politische
Aktion heute blinde Kuh spielen, wo die eine nur noch die
Schattenstellen des sieghaften Kapitalismus abklopft und die
andere mit abgewetzten Begriffen die damit einhergehende wachsende
Aversion gegen die „Heuschrecken" einfängt,
ist die Nachfrage nach solchen Publikationen vernachlässigbar.
Wie viele Autoren gibt es, deren fünfzig Jahre alte Programmschriften
darüber, wie der Sozialismus konkret auszusehen hätte,
heute noch lesbar sind? Ein halbe Hand genügt wohl. Einer
von ihnen ist Castoriadis.
Das Paradoxe an der Rezeption dieses vor zehn Jahren verstorbenen
Autors liegt darin, dass man ihn meistens auf seine frühe
Sowjetkritik und auf sein 1975 erschienenes Hauptwerk „Gesellschaft
als imaginäre Institution" festlegt. Dabei drängt
alles im Werk dieses Denkers, der mehr eine Art Tiefenauslotung
gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse als einen endgültigen
Gesellschaftsentwurf vorlegte, auf Weiterentwicklung und Umgestaltung.
Wenn die Texte aus der Zeit, wo der nach dem Krieg aus Griechenland
nach Paris Gekommene zusammen mit Claude Lefort, Jean-Francois
Lyotard, Daniel Mothe zwischen 1949 und 1965 die trotzkistische
Gruppe „Socialisme ou Barbarie" betrieb, später
wiederholt aufgelegt wurden, dann nicht, weil der Autor nichts
Neues mehr zu sagen hatte. Denken war für den, der Gesellschaft
nur als fortwährende institutionelle Neuerfindung ihrer
selbst durch ihre Mitglieder begriff, seinerseits eine Werkstatt
des permanenten Materialumschichtens. Was Castoriadis dem
Sowjet-Sozialismus und dem theoretisch ihm zugrundeliegenden
Marxismus vorwarf, war gerade dessen bürokratische Starre,
die den gesellschaftlichen Entwicklungsprozess aussetzte und
den „real existierenden" Sozialismus zu einem
Nebenprodukt des Kapitalismus machte.
Der hier vorgelegte zweite Band der Schriftenausgabe hilft,
diese Denkbewegung im Werk besser zu fassen, und greift das
schon dem ersten Band „Autonomie oder Barbarei"
vorangestellte Stichwort wieder auf. Autonomie war theoretisch
wie praktisch der Zentralbegriff, auf den hin Castoriadis
in direkter Fortsetzung des Aufklärungsprogramms sein
Gesellschaftskonzept anlegte. Gesellschaft verstand der Autor
als ständige Selbstorganisation all ihrer Mitglieder
- ein Prozess, der über die Aneignung der Produktionsmittel
nach marxistischem Marschplan weit hinausgeht. Gesellschaft
entsteht durch fortwährende Konfliktaustragung auf allen
Ebenen, sie kennt keinen „letztlich determinierenden"
Bereich, und sei es jener der Produktionsverhältnisse.
Dies war der Standpunkt, zu dem Castoriadis in den siebziger
Jahren gekommen war und den er im Eingangstext dieses Bandes
unter dem Titel „Warum ich kein Marxist mehr bin"
darlegt. Wie diese Entwicklung sich vollzog, dazu liefern
die drei Texte „Über den Inhalt des Sozialismus"
aus den Jahren 1955 bis 1958 interessante Hinweise.
Dass der Sozialismus nach dem Fehlschlag des sowjetischen
Experiments von Grund auf neu zu bestimmen war, erschien dem
Philosophen und seinen Kollegen aus dem Kreis „Socialisme
ou Barbarie" schon früh nach dem Krieg klar. Und
es dämmerte ihnen, dass auch die trotzkistische Erklärung,
die stalinistische Bürokratie sei bloß ein Unfall
der Revolution gewesen, nicht reichte. Dass der Antike entsprungene
Projekt der Demokratie, dass von der Aufklärungsphilosophie,
der amerikanischen und der Französischen Revolution aufgegriffen
und vom utopischen Sozialismus des frühen neunzehnten
Jahrhunderts weitergetragen wurde, sei von der marxistischen
Systemverkürzung auf Wert- und Warenproduktion erschlagen
worden, konstatiert Castoriadis in diesen frühen Schriften
- in dieser Einseitigkeit hätten Kapitalismus und Marxismus
einander bestens verstanden. Das ganze Bestreben des Autors
ging in der Folge dahin, ein emanzipatorisches Modell zu entwickeln,
das Gesellschaftsentwicklung in all ihren Bereichen, auch
in der Frauenbewegung, der künstlerischen Innovation,
im Jugendprotest, begreift. Castoriadis war stets auch an
der Diskussion über Realisierungsmöglichkeiten interessiert
wie kollektive Betriebsführung, Einheitslohn, kreative
Freizeitgestaltung für alle.
Die Ferne solcher Vorstellungen von unserer pragmatisch entzauberten
Gegenwartserfahrung haben manche Autoren wie Axel Honneth
oder Hans Joas gelegentlich dazu veranlasst, zwischen einem
frühen „politischen" und einem späten
„philosophischen" Castoriadis zu unterscheiden.
Die Herausgeber dieser Schriften verstehen ihr Editionsprojekt
auch als Einspruch gegen eine solche Spaltung. Die schlüssige
Auswahl der Texte dieses Bandes gibt ihnen ernsthafte Argumente
in die Hand. Das Werk von Castoriadis ist in seiner Gesamtheit
ein Wechselbrief darauf, dass unser real existierender Kapitalismus
auch kein Endstadium sein kann. Wer die Frühschriften
dieses Werks nicht mitlesen mag, dürfte auch vom Rest
wenig haben.
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