ISBN 3-936049-85-5
80 Seiten
9,80 €

 

Sébastien Faure
Die anarchistische Synthese und andere Texte
herausgegeben, bearbeitet und mit Annotationen versehen von Jochen Knoblauch

„Als bleibende Feinde des Autoritätsprinzips und seiner unseligen Folgen, werden die Anarchisten nach dem revolutionären Sturm, sowie vor und während desselben sich darauf beschränken, die Masse der Arbeiter immer wieder anspornen, sowie ihre Berater und Wegweiser zu sein. Sie werden die ersten Schritte der Masse stützen und die Richtung angeben für den endgültig geöffneten Weg der freien Organisation des sozialen Lebens.“

„’Wohlstand und Freiheit’, jedem Individuum in seiner weitesten Möglichkeit gesichert, das ist das bleibende Ziel, auf welches die Anarchisten aller Zeiten ihren ganzen Willen gerichtet hatten und richten werden.“
Sébastien Faure

Rezension

Maurice Schuhmann: "Die Wiederentdeckung von Sébastien Faure" in: Erkenntnis - E-JOURNAL DER PIERRE RAMUS-GESELLSCHAFT - Nummer 16 - Sommer 2008 mehr ...
Hans Jürgen Degen: "Zurück zu den Klassikern" in: graswurzelrevolution 324 - Dezember 2007 mehr ...

Maurice Schuhmann: Die Wiederentdeckung von Sébastien Faure
Im deutschsprachigen Raum ist der Name Sébastien Faure (1858 - 1942) weitgehend unbekannt. Der aus Frankreich stammende libertäre Pädagoge und Publizist, der u. a. einen starken Einfluss auf Emma Goldman und Louise Michel hatte, wurde nun von Jochen Knoblauch in Form einer Wiederveröffentlichung von drei, seiner Broschüren wieder in das Bewusstsein zurückgeholt. Die drei veröffentlichten Essays Faures, die in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts erstmalig ins Deutsche übersetzt wurden, haben trotz der zeitlichen Differenz ihre Aktualität bewahrt. Beim ersten Essay handelt sich es um den Text „Die Anarchisten“, der sich zeitgeschichtlich in die klassischen Selbstdarstellungen der Bewegung (z.B. Errico Malatesta: Anarchie, Alexander Berkman: ABC des Anarchismus) einreiht. In diesem Text versucht Faure entgegen der gängigen – und bis heute gebräuchlichen Missdeutungen des Anarchismus – etwas entgegenzusetzen. Anhand von den drei Aspekten: „Wer wir sind! Was wir wollen! Und was unser revolutionäres Ideal ist!“ präsentiert er – zeitlich bedingt – ein streckenweise sehr pathetisches Bild des Anarchismus, das aber die wesentlichen und bis heute gültigen Grundüberzeugen benennt. Ein weiterer Essay trägt den Titel „Die Verbrechen Gottes“ und ist eine Auseinandersetzung mit dem religiösen Glauben. Basierend auf rationalen Überlegungen widerlegt er den Gottesglauben und propagiert den Atheismus. Weiterhin findet sich der Aufsatz „Die anarchistische Synthese“ in der Sammlung, der noch durch den Abdruck einer Kommentierung durch den italienischen Anarchisten Luigi Fabbri ergänzt wird. In diesem Essay verteidigt Faure die Vielschichtigkeit der anarchistischen Strömungen, die von vielen GenossInnen als eine Schwächung wahrgenommen werden. Auch hier zeigt sich wieder die Aktualität seines Denkens. Statt die Vielschichtigkeit zu akzeptieren und die Heterogenität als Gewinn zu betrachten, neigen viele AnarchistInnen dazu, die von ihnen präferierte Strömung als einzig wahre zu sehen und anderen Strömungen ihren emanzipatorischen Gehalt abzusprechen. Für Faure hingegen besteht die Möglichkeit einer Synthese der unterschiedlichen Strömungen, die sich sehr gut in ihrer ausdifferenzierten Schwerpunktsetzung ergänzen und sich gegenseitig befruchten können. Eingerahmt sind die Texte durch ein knappes Vorwort und eine Kurzbiographie von Sébastien Faure, die eine erste Verortung des Hintergrundes zulassen.
Der Verdienst dieser Veröffentlichung ist, dass wieder ein im deutschsprachigen Raum fast vergessener Autor publiziert wird. Die Edition seiner Schriften ist behutsam vorgenommen, ist aber an manchen Stellen noch ergänzungsbedürftig. So fehlen sowohl bei „Die Anarchisten“ als auch bei „Die anarchistische Synthese“ die Angaben der französischen Erstveröffentlichung. Das sind aber Kleinigkeiten, die sicherlich nur für eine vornehmlich wissenschaftlich interessierte LeserInnenschaft von Relevanz sind. Zu wünschen wäre, dass inspiriert von dieser Veröffentlichung weitere Texte von Faure in deutscher Sprache zugänglich gemacht werden.

Hans Jürgen Degen: Zurück zu den Klassikern
Die Hochzeit der Nachdrucke von Texten anarchistischer Klassiker ist vorbei. Und das ist gut so. Dennoch ist der Rückgriff auf seine „Klassiker“ für die permanent notwendige Aktualisierung des Anarchismus immer notwenig.
Die Herausgabe von Texten des in Deutschland fast unbekannten französischen Anarchisten Sebastian Faure (1858-1942) durch Jochen Knoblauch zeigt mit dem Beitrag „Die anarchistische Synthese“ (1928) ein immer noch aktuelles Problem: die oft sinnlose Trennung der Anarchismen in Diskussionen, bei Taktiken, Strategien etc.
Dass sich daraus Missverständnisse ergeben, versteht sich von selbst.
Anarchistische Synthese ist nicht die Einebnung der unterschiedlichen anarchistischen Konzepte, sondern soll als deren gegenseitige Befruchtung für einen effektiven gemeinsamen Kampf bis zum „Endziel“ fungieren.
Anarchistische Synthese bedeutet aber auch, dass sich nur das zusammenbringen lässt, was auch zusammengehört.
Anarchistische Synthese ist also auch Ausschluss. Für Faure gibt es „drei große anarchistische Strömungen“, die er in einer Synthese sehen wollte: „Anarcho-Syndikalismus, der freiheitliche Kommunismus, der anarchistische Individualismus“ – Strömungen, die heute noch, neben dem gewaltfreien Graswurzel-Anarchismus, wesentliche Teile der anarchistischen Bewegung ausmachen. Allen ist gemeinsam – und deswegen plädierte Faure ja auch nachdrücklich für ihre Synthese –, dass sie konsequent antistaatlich und konsequent antikapitalistisch sind.
Irgendwelche Trittbrettfahrer des Anarchismus hatte Faure nicht vorgesehen. Zu seiner Zeit gab es sie nicht. Heute ist das anders: Wie Zecken klammern sich Gestalten an den Anarchismus, die z.B. ihre goldenen Fahnen schwenkend den Staat in den Orkus schicken wollen, damit der Kapitalismus endlich alle Lebensbereiche der Gesellschaften beherrscht. Im Namen der Freiheit die totalitäre kapitalistische Klassenherrschaft!
Faures „Anarchistische Synthese“ ist ein Text für die anarchistische Szene. Es ist immer noch ein großes Manko, dass anarchistische Literaturproduktion meist nur für schon „Überzeugte“ ist. Hinzu kommt ihre verstärkte Akademisierung und damit Aufgeblähtheit, d.h. auch ihre Unverständlichkeit. Hier fehlt die Klarheit der „Klassiker“. Diese hatten den Anspruch, Frau und Herrn Nachbarn „aufzuklären“.
Der in diesem Band ebenfalls wiedergegebene Text „Die Anarchisten“ (1925) ist einer dieser „Aufklärungsschriften“, die den „Massen“ klarmachen wollten: Wer sind die Anarchisten, was wollen die Anarchisten und warum überhaupt Anarchismus!
Für den ehemaligen Jesuitenschüler Faure müssen die Säulen der „bürgerlichen“ Gesellschaft zum Einsturz gebracht werden: „Wir wollen den Staat vernichten, das Eigentum aufheben und den religiösen Betrug aus dem Leben streichen, damit alle Menschen [sich], befreit von den Ketten, deren Schwere den Fortschritt hindert und lahmt – ohne Gott noch Herr und unbehindert [...] der Freiheit zuwenden können.“ Und noch mal unumwunden Faure: Was den Menschen die Freiheit vorenthält, sind „Hindernisse“: „der Staat, das Eigentum und die Religion“.
Ein weiterer Text Faures ist „Die Verbrechen Gottes“ (1904), welcher lange nicht so tiefschürfend ist wie Bakunins „Gott und der Staat“. Aber noch immer lesenswert, weil er die damaligen Diskussionen widerspiegelt; er zeigt retrospektiv, was für ein Wandel stattgefunden hat: „Gott“ ist in weiten Teilen der Gesellschaft „relativiert“, die „Kirchen“ sind (äußerlich) weitgehend in Nischen gedrängt: Ihre politische Macht, der Klerikalismus ist scheinbar moderater; tatsächlich treibt er, wie ehedem, aggressiv mit totalitärem Anspruch Politik. Es gibt noch viel zu tun.
Der Herausgeber erwähnt in seinen Ausführungen „Zur Person Sebastien Faure“ den Anarchismushistoriker Max Nettlau. Dieser plädierte für einen „Anarchismus ohne Adjektive“. Ihm war der Anarchismus identisch mit Sozialismus. Diese Auffassung ist wohl Konsens bei den meisten Libertären.
Deswegen sollten Unklarheiten bei Zuordnungen von Herrschaftssystemen unterlassen werden: So kann es aus libertär-sozialistischem Verständnis keine (vergangenen oder zukünftigen) „staatssozialistischen Regierungen“ (Knoblauch) geben. Der schmähliche, verschwundene „real existierende Sozialismus“ war real existierender Staatskapitalismus.
Er war jedoch recht effektiv: „die Akkumulation und Konzentration des Kapitals [vermochte er] besser und schneller zu verwirklichen“ (Andre Gorz) als sein Stiefbruder „Privat“-Kapitalismus. Knoblauchs „Einleitung“ ist quasi ein Appell für das Zurück zu den Klassikern, um über sie hinaus zu kommen.
Dafür aber ist die „anarchistische Synthese“ notwendig: gestern, heute morgen.

Zurück zum Seitenanfang | Zurück zur Startseite