Erinnerungen eines Unbesiegten
Gespräch mit dem libertären Schriftsteller Michel Ragon

Michel Ragon ist nicht nur einer der bekanntesten libertären Schriftsteller der Gegenwart, sondern auch der letzte bedeutende Vertreter der „proletarischen Literatur“, einer um 1930 von Henri Poulaille begründeten literarischen Strömung. Obwohl Ragon deren Beschränkung auf die authentische Wiedergabe proletarischer Lebenswirklichkeit niemals teilte, hat er sich stets zu dieser Tradition bekannt und sich mit seiner gerade in dritter Neuauflage erschienenen „Geschichte der proletarischen Literatur in Frankreich“ zu ihrem Historiker gemacht.

Das ist dein Büro hier?
Ja, mein Reich, der Traum eines ganzen Lebens, der eines Tages in Erfüllung gegangen ist. Hier habe ich meine Ruhe, schaue auf Paris herunter, bin von meinen Büchern umgeben.

Wie arbeitest du?
Am liebsten morgens. Am Nachmittag beantworte ich Post, treffe Leute, mache ein Nickerchen...

Du fängst in aller Frühe an?
Nicht mehr. Ich habe schließlich die Altersgrenze für den Ruhestand schon lange überschritten! Aber früher habe ich in der Tat ganz früh am Morgen angefangen, weil ich tagsüber noch woanders arbeiten musste. Hier verbringe ich den ganzen Morgen.

Ich sehe keinen Computer...
Kein Computer, stattdessen eine alte Schreibmaschine. Und selbst damit umzugehen, hatte ich anfangs meine Schwierigkeiten. Ich schreibe auch gerne mit der Hand. So fange ich häufig an.

Woran arbeitest du gerade?
Es gibt zwei Richtungen in meinem literarischen Werk: die Bauernromane und die politischen Bücher. Das nächste wird ein politisches Buch.

Wieder bei Albin Michel?
Ja. Kennst du dich ein wenig aus mit meinen Büchern?

Von den etwa fünfzig habe ich ein knappes Dutzend gelesen, besonders „Die roten Tücher von Cholet“ und „Das Gedächtnis der Besiegten“. Die Sachen über Architektur hingegen gehen völlig an mir vorbei. „Das Gedächtnis der Besiegten“ nimmt natürlich einen Sonderplatz ein, weil es ein Buch ist, das ich sehr gerne gelesen habe, weil wir es auf unseren Büchertischen verkaufen und den Jungen empfehlen, die zur anarchistischen Bewegung stoßen.
Ja, das wundert mich nicht. Wenn die Leute zu „Publico“ kommen [Buchhandlung der Anarchistischen Föderation] und fragen, was die libertäre Bewegung ist, sagen sie dort: „Lies erstmal das!“ Es ist immer noch ein erfolgreiches Buch, als Taschenbuch wiederaufgelegt, das eine Leserschaft hat und Leute aus den unterschiedlichsten Milieus erreicht, mitunter auch solche, die uns sehr fern stehen.

Warum ist das Buch um 1990 entstanden? Um zu verhindern, dass eine Erinnerung verloren geht?
Ich habe mir gesagt, dass ich Träger einer Erinnerung bin, da ich alle bekannten Anarchisten kennen gelernt habe, in meiner Jugend und auch später. Ich war eng mit Maurice Joyeux befreundet, kannte aber auch Leval, Louvet und sogar Armand. Ich hatte engen Kontakt zu Lecoin, wir haben zusammen für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung gekämpft. Da alle diese Leute tot sind, habe ich mich entschlossen, von ihnen zu erzählen und dafür die Romanform gewählt, was mir von manchen Historikern übel genommen wurde, aber mein Ziel war, ein großes Publikum zu erreichen. Ich wollte einen Roman in der Tradition der großen volkstümlichen Romane des 19. Jahrhunderts schreiben und eben auf diese Weise Personen und Ideen einbinden.

Sprechen wir über Fred Barthélemy, den Helden von „Das Gedächtnis der Besiegten“. Sein Leben erscheint unglaublich, so vollgepackt, wie es ist, von den anarchistischen Expropriateuren zu Anfang des Jahrhunderts bis zu den Ökokämpfen der 1980er Jahre. Welche Vorbilder haben für diese Figur Pate gestanden?
Fred ist so ein Fall, wo der Autor merkt, dass er ins Schwarze getroffen hat. Fred ist eine äußerst lebendige Figur geworden, sogar so lebendig, dass nicht wenige Leser dachten, er habe wirklich existiert und auf den Friedhof Père-Lachaise gegangen sind, um sein Urnengrab zu suchen. Tatsächlich ist er eine Mischung aus drei Personen. Er ist zunächst von Gaston Leval inspiriert, den ich sehr gut gekannt habe...

Leval für die Kapitel über Spanien 36...
Ja, eher in Bezug auf Spanien. Als ich 23 oder 24 war, nach dem Krieg, hat er mich häufig zu sich eingeladen, ich habe viel von ihm erfahren. Dann Henri Poulaille, besonders für die Kindheit und das Alter.

Die Kindheit in der Bonnot-Bande, das ist Poulaille?
Ja.

Die Anti-AKW-Demos auch?
Nein, das sind eher Porträts zeigenössischer Aktivisten.

Und Russland in den frühen Tagen der Revolution? Die großen Auseinandersetzungen zwischen Anarchisten und Bolschewiken, die Zusammenstöße von 1918, stammt das auch aus der Geschichte von Poulaille?
Nein, dabei handelt es sich um jemanden, der russisch sprach, der zur französischen Militärdelegation von 1918 gehörte und als anarchistischer Aktivist in Russland blieb...

Marcel Body?
Genau.

Er war nicht eigentlich Anarchist, eher ein oppositioneller Kommunist...
Ich habe einen Anarchisten aus ihm gemacht. Über Russland habe ich auch das benutzt, was Leval mir erzählte. Und die Schriften von Berkman, Emma Goldman. Tatsächlich enthält das Buch eine ganze Zusammenfassung der Geschichte des Anarchismus, vielleicht zu viel. Tardi würde gerne einen Comic daraus machen, aber ihm ist das Ganze einfach viel zu lang.

Du gehst sehr wenig auf den Zweiten Weltkrieg ein, auf die Zeit 1940-1945, außer mit der Erwähnung des Flugblatts „Frieden sofort“ und der Verhaftung von Louis Lecoin. Warum? Weil es eine besonders düstere Periode in der anarchistischen Geschichte ist?
Ja, eine etwas dunkle Periode. Der Pazifismus hatte zu einer abwartenden, opportunistischen Haltung, ja sogar zur Kollaboration geführt. Selbst Lecoin, der ein toller Typ war, wurde beschuldigt...

Welche Erinnerung hast an ihn? Und die anderen?
Eine großartige Erinnerung, ein kleiner Mann, noch kleiner als ich, der sich vor nichts fürchtete und für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung kämpfte. Er bleibt ein Vorbild an kämpferischem Engagement. Maurice Joyeux war jünger, ein Kumpel, ein Volkstribun, ein außergewöhnlicher Typ. Seine Kinder sind immer noch in der Bewegung.

Das sieht man immer häufiger. Das libertäre Erbe! Und Henri Poulaille?
Das ist mein geistiger Vater. Als ich 1945 nach Paris kam, weil sich dort alles abspielte und weil ich ihn treffen wollte, nachdem wir schon Briefe gewechselt hatten, setzte er mich vor die Tür! Ich bin am nächsten, am übernächsten Tag wiedergekommen und schließlich hat er mich all seinen Freunden vorgestellt. So bin ich zur libertären Bewegung gekommen. Poulaille war das große Vorbild.

Der geistige Vater, auch in der Literatur?
In der Literatur weniger. Ich legte Wert darauf, gut zu schreiben, Poulaille kaum. Aber als Verfechter der proletarischen Literatur hat er mich beeinflusst. Ich schrieb ihm von Nantes aus, nachdem ich etwas von ihm gelesen hatte. Als kleiner Malocher, der mit 14 Jahren angefangen hatte zu arbeiten, sagte ich mir: „Das ist ja großartig, es gibt Leute, die aus dem Volk kommen und über das Volk schreiben“.

Eine Literatur durch und für das Volk?
Nicht unbedingt für das Volk, aber eine, die auf das kollektive Gedächtnis zurückgreift, es in eine andere Sprache, einen anderen Stil übersetzt, um die größtmögliche Leserschaft zu erreichen. Das ist immer mein Ziel gewesen und ich habe es auch erreicht, siehe die große Zahl meiner Leser...

Dein größter Verkaufserfolg sind „Die roten Tücher von Cholet“?
Ja, davon sind um die 400.000 Exemplare verkauft worden. Das war der Durchbruch, danach braucht man, sagt mein Verleger, nie wieder ganz von vorn anzufangen, man hat immer eine gewisse Lesergemeinde.

Kommen wir auf die Vendée zu sprechen, dem anderen großen Thema deines Werkes.
Ich stamme zwar aus dieser Gegend, aber ich habe mich mit der Vendée nicht allzu lang beschäftigt. Beim Tod meiner Mutter habe ich nachzuforschen begonnen, was hinter ihrem Akzent steckte, nämlich eine Bauernfamilie und eine Region. Nach und nach habe ich mich in diese Sache hineingekniet, bin in die Archive gegangen und habe festgestellt, dass die Geschichte der Vendée hochbrisant ist, dass sie im 19. Jahrhundert von Adel und Kirche verfälscht und vereinnahmt wurde. Der Vendée-Aufstand war einer von unten, letztlich sehr anarchistisch. Die Bauern und Arbeiter – denn in der Gegend von Cholet gab es all diese Arbeiter, die Weber, die Hufschmiede – stürmten die Städte und zerstörten alle Akten und Urkunden. Dieser Aufstand ist von dem Augenblick an vereinnahmt worden, als die Vendéer den großen Fehler begingen, sich einzureden: „Wir sind zu viele und verstehen nichts vom Kämpfen. Wir brauchen Offiziere.“ So haben sie sich die Adligen geholt, und das war das Ende der Guerillakämpfer, der unbesiegbaren Soldaten. Die Adligen haben sie zu einer Armee formiert und sie wurden zwangsläufig geschlagen.

Das ist also ein Thema, auf das du erst spät gestoßen bist. Ich dachte immer, das käme aus deiner Kindheit in Fontenay-le-Conte.
Das gehörte zu meinen frühen Erinnerungen, man sprach darüber, um mich herum, in meiner Kindheit, aber das interessierte mich nicht. Ich habe „Der Akzent meiner Mutter“ geschrieben, um das für mich wiederzuentdecken.

Hat man dich, um 1980, nicht unter die Regionalschriftsteller eingereiht?
Doch, das hat einen Teil des Erfolgs von „Die roten Tücher von Cholet“ ausgemacht. Das Buch wurde getragen von der großen Strömung zur Wiederaneignung des kollektiven Gedächtnisses in der Provinz. Es gab eine Erwartung von Seiten der Leser. Würden die „Roten Tücher“ heute veröffentlicht, sie hätten nicht den gleichen Erfolg.

Ich verdanke den „Roten Tüchern“ meine Abkehr von einer sehr „blauen“ [nach der Uniform der republikanischen Soldaten], sehr jakobinischen Sicht der Vendée-Kriege und die Entdeckung der Rolle des Volkes in diesem Aufstand, die Ablehnung der von der regierenden Bourgeoisie in Paris stammenden Anordnungen. Wie bist du auf diese in der damaligen Geschichtsschreibung absolut neue Idee eines quasi-anarchistischen Vendée-Aufstands gekommen?
Ich habe diesen Wolf ins Dorf getrieben und das war sehr umstritten. Raymond Guérin [vermutlich ist Daniel Guérin gemeint] hat mich in dieser Frage wesentlich beeinflusst. Er war ein Denker, der Marxismus und Anarchismus zusammenzubringen versuchte. Er sagte zu mir: „Du als Vendéer solltest den Vendée-Aufstand im Lichte des Marxismus noch einmal neu betrachten. Da liegt etwas verborgen.“ Meine Lesart ist libertärer. Gleichwohl handelt es sich um den Aufstand einer Klasse gegen eine andere.

Kannst du uns etwas über deine Beziehungen zur Kunstwelt und deine Schriften zur Architektur erzählen?
Ich war etwa 24, da bin ich rein zufällig einer Gruppe von Malern begegnet, für die sich damals niemand interessierte, zumindest nicht die Galeristen, Sammler und Museen. Es waren abstrakte Maler. Diese Künstler haben mich gebeten, über sie zu schreiben, und so bin ich gewissermaßen ihr Chronist geworden, etwa für Soulages, Poliakov oder Dubuffet. Dubuffet war Individualanarchist, er hat sogar Poulaille besucht, aber sie haben sich nicht verstanden. Dubuffet war Großbürger, sie lagen kulturell zu weit auseinander und waren auch schon zu alt. Kunstkritiker, besonders für die Zeitschrift „Arts“, das war lange Zeit mein Brotberuf. Als ich einflussreicher wurde, ging mir der Kunstmarkt auf die Nerven, weil ich feststellte, dass eine gute Kritik über einen Maler dessen Kurswert steigerte. Die Architektur faszinierte mich, besonders Le Corbusier und das Neue Bauen, ich habe begonnen, mich damit zu beschäftigen, in der naiven Annahme, sie sei weniger leicht zu „vereinnahmen“. Gleichzeitig habe ich eine Lücke geschlossen, denn es gab sehr wenige Leute, die damals über moderne Architektur schrieben. Meine „Geschichte der Architektur“ in drei Bänden liegt jetzt in einer Taschenbuchausgabe bei Seuil vor. Sie wird auf den Schulen immer noch viel gelesen. Über die Architektur habe ich auch wieder Anschluss an mein gesellschaftliches Anliegen gefunden. Denn ich spreche in meinen Büchern nicht nur über Ästhetik, sondern auch über Fourier, Considérant und den sozialen Wohnungsbau.

Welche Autoren haben dich inspiriert?
In erster Linie Jean-Jacques Rousseau, weil er Autodidakt war und aus demVolk stammte. Darin habe ich mich wiedererkannt. Daneben Guéhénno und Poulaille.

Was denkst du über die libertäre Bewegung von heute?
Einerseits gehöre ich dazu, andererseits stehe ich außen vor. Ich halte immer noch engen Kontakt zu vielen Aktivisten, bin immer noch auf dem Laufenden. Es ist ein Milieu, in dem es sehr herzlich, sehr freundschaftlich zugeht, aber ich bin zu einer Art Obermufti, zum Großpapa geworden. Ich bin zwar im großen Ganzen, aber nicht in allen Punkten einverstanden. Ich habe z.B. immer den Einfluss der Trotzkisten auf die libertäre Bewegung kritisiert!

Zur Zeit von Joyeux vielleicht, aber heute...?
Auf den Demos sind sie nie weit weg. Und schau dir Besancenot an, der Marxismus mit libertären Ideen vermengt. Sie sind sehr schlau! [Olivier Besancenot, Präsidentschaftskandidat der trotzkistischen „Ligue communiste révolutionnaire“ bei den Wahlen 2002, der sich als „libertärer Kommunist“ bezeichnet]

Mit welchen Gefühlen denkst du an dein Leben zurück? Bedauern?
Viel vergeudete Zeit, ein schwieriger Weg! Ich war Kriegswaise, hatte Anspruch auf staatliche Unterstützung, hätte Ausbildungsstipendien bekommen können, aber als ich 14 war, fragte meine Mutter den Gemeindepfarrer, ob ich auf eine weiterführende Schule gehen solle und der antwortete: „Auf eine gottlose Schule, bloß nicht, da ist es besser, er arbeitet!“ So sind meine Mutter und ich nach Nantes gezogen, sie wurde Hausmeisterin, ich Botenjunge. Eine der großen Schwächen der Armen ist, dass sie nicht wissen, dass es Auswege gibt. Péguy stammte auch aus bescheidenen Verhältnissen, aber seine Mutter wusste um die Existenz von Stipendien. Meine nicht.

Auf welches Buch bist am meisten stolz?
„Das Gedächtnis der Besiegten“, ohne jeden Zweifel. Ich könnte „Die roten Tücher von Cholet“ und „Der Akzent meiner Mutter“ hinzufügen. Alles in allem drei Bücher, mit denen man zufrieden sein kann, das ist doch schon was.

(Aus: Barricata Nr. 14, Juni 2006, Interviewer: Pâtre)
übersetzt von MH


Die Rezeption Ragons in Deutschland hat einen eigentümlichen Verlauf genommen. Während bis Anfang der 1970er Jahre ein ansehnlicher Querschnitt durch sein bis dahin veröffentlichtes Werk übersetzt wurde – Romane, Schriften zur Kunst, Architektur und Stadtplanung –, brach danach das Interesse ein, nur sein Bestseller „Die roten Tücher von Cholet“ erschien noch auf Deutsch und – jüngst – sein literarisches Hauptwerk „Das Gedächtnis der Besiegten“.

Das Abenteuer der abstrakten Kunst, Darmstadt 1957
Geishas tanzen nicht für jeden, Hamburg 1960
Amerikaner (Roman), Hamburg 1961
Witz und Karikatur in Frankreich, Hamburg 1961
Der Müßiggänger (Roman), Hamburg 1962
Der Expressionismus, Lausanne 1967
Wo leben wir morgen?, München 1967
Ästhetik der zeitgenössischen Architektur, Neuchatel 1968
Die großen Irrtümer, München 1972
Der Eichener, Bremen 1986 (neu unter dem Titel: Die roten Tücher von Cholet, München 1989)
Das Gedächtnis der Besiegten, Lich 2006

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