Kurt Wafner 2001

Antifa-Jugend 1935. Kurt Wafner sitzt in der Mitte

Buchpremiere für die Herausgabe der Programm-Zeitschrift „Schall undRauch“ im Foyer der Kammerspiele – mit Verlagsleiter Dr. Werner Tenzle

Zum Tod von Kurt Wafner (25.11.1918 – 10.3.2007)

Ein Nachruf

„Das wahre Heldentum liegt nicht im Morden, sondern in der Weigerung, den Mord zu begehen.“ Nach dieser Maxime des pazifistischen Anarchisten Ernst Friedrich, neben Erich Mühsam eines seiner Vorbilder, hatte Kurt Wafner zu leben versucht.
Er hat es geschafft, obwohl bei seiner Beteiligung als Landser am Zweiten Weltkrieg nicht viel gefehlt hätte, und er hätte sich aktiv am Morden beteiligen müssen. Doch seine Sozialisation im anarchistischen Jugendgruppen-Milieu der zwanziger Jahre hatte Kurt Wafner zum bewussten Außenseiter werden lassen, der auch in schlimmsten Lebenssituationen, von denen er viele durchmachen musste, nach Wegen suchte, um seine Menschlichkeit nicht zu verlieren. Später, in den neunziger Jahren wurde der Kriegsteilnehmer zu einem der Zeitzeugen bei der Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-44“, zu der er auch eigene, während der Kriegszeit gemachte Fotos beisteuerte.
In einem seiner Artikel, die er zu jener Zeit für die Graswurzelrevolution schrieb, fasste er sein Bemühen, bei der Rehabilitierung von Wehrmachtsdeserteuren mitzuhelfen, zusammen:
„Für die aufmerksamen Betrachter bieten die hier ausgebreiteten Dokumentationen noch tiefere Einsichten: Jede Auseinandersetzung mit Waffengewalt erzeugt menschliches Leid – Tod und Vernichtung. Darum dient sie niemals dem Volk, sondern stets einer Prestige und Profit gewinnenden Oberschicht. Und jeder Dienst mit der Waffe in einer Staats-Armee hilft die Kriegsgefahr zu vergrößern, anstatt sie abzubauen.“ (Kurt Wafner: Ausgeschert aus Reih' und Glied. Mein Leben als Bücherfreund und Anarchist, Edition AV, Frankfurt/M. 2001, S. 186, alle weiteren Zitate ebenfalls aus dieser Autobiographie.) Insofern sprach Kurt Wafner auch von seiner eigenen Mitschuld, ohne je im Weltkrieg auf den Feind geschossen zu haben... Und genau darin, in dieser Ehrlichkeit, nichts vertuschen zu wollen, liegt für mich ein Großteil seines Vermächtnisses auch für die libertär-gewaltfreie Bewegung.

Das Revolutionskind

Kurt Wafner wurde im November 1918 mitten in der Berliner Novemberrevolution geboren.
Im März 1919 rückten Freikorpstruppen in der Frankfurter Straße vor, wo das Wohnhaus der Eltern und Großeltern Kurts stand. Mehrfach ließ Noske dort und in angrenzenden Straßen streikende ArbeiterInnen hinrichten – ein Menetekel für das, was Kurt als Erwachsener noch mit eigenen Augen sehen sollte. Auf Umwegen zog die Familie bald nach Berlin-Weißensee.
Nach dem frühen Tod seines Vaters holte die Revolution Kurt ganz privat ein:
„Aber eines Tages brach eine Revolution in unseren Alltag herein. Bernard zog zu uns, mein Onkel, der jüngste Bruder meines verstorbenen Vaters. Er wurde Mutters Lebensgefährte. Bernard nannte sich Weltbürger, Vagabund, Anarchist. Er war schon in verschiedenen Ländern umhergezogen und brachte eine frische Brise in unsere abgeschiedene Welt – die Freude am freien Denken, am aufrechten Gang. Und den Hass auf Krieg und Gewalt.“ (S. 24)
Mit Hilfe des 1938 nach Argentinien ausgewanderten Bernard entdeckte Kurt zwei Leidenschaften: die für den Anarchismus und die für Bücher. Er wurde später auch Zeitzeuge der Bücherverbrennung. Bücher begleiteten ihn sein ganzes Leben.
Für seine geistige Entwicklung profitierte Kurt von der Weißenseer weltlichen Reformschule, in der er Interesse an allen Formen der Kunst entwickelte, seien es Theater, Chorgesang, Malerei, Musik usw. Mit zehn Jahren bekam Kurt von Bernard das aufwühlende Antikriegsbuch von Ernst Friedrich, Krieg dem Kriege, in die Hand. Er begegnete Ernst Friedrich in dessen 1925 eröffneten Berliner Antikriegs-Museum.
„Ernst Friedrich wurde einer meiner wichtigsten Wegbereiter. An die erschütternden Bilder in Buch und Museum dachte ich oft, als ich die Schrecken des Krieges selbst erleiden musste. Und ich fragte mich so manches Mal: Warum waren die leidenschaftlichen Rufe dieses Rebellen und seiner Getreuen ungehört verhallt?“ (S. 45)
Bernard nahm Kurt auch zu Treffen der „Anarchistischen Vereinigung Weißensee“ mit, wo sich wöchentlich rund 20-25 Aktive trafen. Über die Weißenseer Gruppe lernte Kurt Erich Mühsam kennen:
„Die Persönlichkeit Erich Mühsams nahm eine großen Raum in meinem Leben ein. Ich war stolz, als es einige Male zu persönlichen Gesprächen kam. Ich erinnere mich an eine Begegnung mit ihm in der Geschäftskommission (GK) der FAUD (Freie Arbeiter-Union Deutschlands; d.A.), die sich am Märkischen Ufer befand. (...) Mühsam, der dort einige Male mit Rudolf Rocker, dem Kopf der anarchosyndikalistischen Bewegung zusammentraf, sprach mich an. (...) Er wollte wissen, was ich las. Als ich ihm Autoren wie Mark Twain, Jack London, Zola und Traven nannte, war er sichtlich zufrieden. Er wollte gehen, doch dann wandte er sich noch einmal um und sagte: 'Vergiß Goethe nicht! Und Heine! ... Die sind wichtig!’ Dass er mir ‚bürgerliche’ Literatur empfahl, verstand ich damals nicht so ganz (...). Später beschäftigte ich mich ausführlicher mit Mühsams Kunstkonzept. (...) Es sei ‚lächerlicher Unfug’, von proletarischer Kunst zu reden. 'Kunst soll begeistern’, schrieb er.“ (S. 50)
In den letzten Jahren der Weimarer Republik nahm Kurt am kulturellen Leben der anarchistisch¬en Szene in Berlin teil.
Nach einem Vortragsabend mit Erich Mühsam beteiligte er sich nach Ansprache von zwei Freunden an der Gruppe „Freie Arbeiter-Jugend“ (FAJ). Zu deren Aktivitäten zählten Ausflüge in die Berliner Umgebung, bevorzugt zum Hönower Badesee, wo sich Jugendliche aus der Lebensreformbewegung trafen, Lagerfeuerromantik erlebten, Antikriegslieder sangen, über freie Liebe diskutierten und der in der anarchistischen Jugendbewegung damals verbreiteten Freikörperkultur (FKK) frönten – und wo Kurt einige frühe Liebesabenteuer hatte.
Das war schon Anfang der dreißiger Jahre. Gegen den aufkommenden Antisemitismus war Kurt resistent. Das hatte auch damit zu tun, dass das jüdische Ehepaar Else und Leib Bubis in die Wohnung der Wafners als UntermieterInnen einzog.
Leib Bubis las den Wafners an Familienabenden Werke jüdischer SchriftstellerInnen vor und wanderte mit Kurt zusammen über den jüdischen Friedhof.
Er war ein Onkel von Ignatz Bubis, dem 1999 verstorbenen ehemaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden Deutschlands. Ignatz fand das erst 1996 durch Zufall heraus, besuchte dann Kurt – und daraus entwickelte sich eine freundschaftliche Beziehung. Als mich Kurt Wafner kurze Zeit später für einige Tage im Redaktionsbüro der damaligen Süd-Redaktion der GWR besuchte, erzählte er mir ganz begeistert von dieser Freundschaft. Ignatz Bubis lud ihn, seine Ehefrau Ingrid und seine Enkelin Nadja sogar noch zu einer Reise nach Israel ein.

Gratwanderungen im Nationalsozialismus

Noch kurz vor der Regierungsübernahme der Nazis nahm Erich Mühsam mehrfach an den Gruppenabenden der FAJ teil. Es traf die Gruppe umso härter, als sie erfuhr, dass Mühsam 1933 von den Nazis verhaftet und 1934 im KZ Oranienburg zu Tode gefoltertworden war. Die Bücher kritischer und anarchistischer AutorInnen im Hause Wafner wurden aus Angst entweder selbst verbrannt, mussten in einen Verschlag in den Keller oder wurden an geheimen Stellen im Boden vergraben, so etwa die Programmhefte des Kabaretts „Schall und Rauch“ von Max Reinhardt, die Kurt in den 80er Jahren über einen westdeutschen Verleger als Reprint wieder veröffentlichte.
„Wir protestierten mit kleinen Schritten – aber auch sie wurden zunehmend gefährlicher – bald schon konnte ein politischer Witz das Todesurteil bedeuten. Unsere ‚Kampfmittel’ waren passive Resistenz gegenüber den Forderungen der Nazis, selbst wenn die Karriere oder ein sorgloses Leben gefährdet waren, und die antifaschistische Aufklärung. (...) Allmählich lichteten sich unsere Reihen. Der zunehmende Naziterror hatte auch in die Familien einiger Jugendgenossen erbarmungslos eingegriffen. Sie blieben aus Vorsicht fern. Andere fielen der Wehrmachts-Dienstpflicht zum Opfer. Ich erinnere mich an den Abschiedsabend mit Herbert – einem der beiden, die mich für die FAJ geworben hatten.
Es kam keine rechte Stimmung auf. Und es war wie Hohn, als wir zaghaft, mit gesenktem Blick eines unserer ‚Kampflieder’ anstimmten: "Nie woll’n wir Waffen tragen / nie zieh’n wir in den Krieg!’“ (S. 89) Wer nicht flüchtete und ins Exil ging, wollte wenigstens noch eine Weile Sand ins Getriebe streuen. Die Wanderausflüge waren noch möglich und auf einer Wanderung vereinigte sich die FAJ mit der Reinickendorfer kommunistischen Parteijugend. Die praktische Notwendigkeit, gegen die Nazis zusammenzuarbeiten, führte zum Einheitsgedanken. Die KP-Strategie des „Trojanischen Pferdes“, nazistische Organisationen wie etwa den Kleingärtner-„Heimatbund“ zu unterwandern, führte jedoch nur zu kleinen Erfolgen. So gelang es Kurt, bei einem Laienspielabend dem Publikum Verse von verbrannten Schriftstellern unterzujubeln.
Das Bündnis bekam Risse, als Rudolf Michaelis 1936-39 aus Barcelona Berichte über den Terror der StalinistInnen 1936 nach Berlin sandte. Und auch die Pressemeldungen über die Schauprozesse in Moskau stellten die Jugendlichen aus den zwei Lagern auf eine harte Probe, doch sie blieben zusammen. Anfang April 1939 war es jedoch vorbei: Kurt wurde zum Reichsarbeitsdienst eingezogen.
Weil er nur Dienst nach Vorschrift machte, sich nicht vordrängte, beim Schießen nur Fahrkarten schoss und darauf achtete, nicht Karriere zu machen, indem er immer wieder auf eine kleine Sehbehinderung hinwies, blieb er im Arbeitsdienst („den Spaten am Tornister, das Gewehr über der Schulter“), als die Wehrmacht in Polen einfiel.
Hier schon erlebte er die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung durch die Wehrmacht, während er mit dem Spaten zerstörte Straßen ausbesserte. Er kehrte im Oktober nach Berlin zurück, doch nun gab es keine Schonzeit mehr. Es war eine ständige, anstrengende Gratwanderung, nachdem er im April 1940 zum Militär eingezogen wurde. Er schaffte es, zum Innendienst zu kommen („Kartoffelschälen für die Küche, Hilfsarbeiten für die Kleiderkammer, Pferdegeschirre reinigen“). In dieser Funktion nahm er am Überfall auf die Sowjetunion teil, in der Nachhut. Das ständige Sich-Durchlavieren ermüdete den Einzelkämpfer. So war er froh, als er mit drei anderen ehemaligen anarchistischen Genossen zu einer Kartenrunde zusammenfand, die zwei Jahre zusammenblieb und als Wachsoldaten für sowjetische Kriegsgefangene diesen mitunter Nahrungsmittel zustecken konnte.
Die Gruppe sorgte für ein halbwegs anständiges Überleben unter Tätern, sofern das überhaupt möglich war:
„Als der LKW in die Stadt einfuhr, ließ der Leutnant plötzlich halten und befahl uns, anzuschauen, was mit ‚bolschewistischen Verbrechern’ geschehen würde. Und wir mussten sie uns dann ansehen, die Galgen mit den daran baumelnden Toten – auf dem Platz vor dem Theater und an einer Straßenecke.“
Mit seinem anarchistischen Freund Rudi Kuhn ging er nach der „Räumung des Minsker Ghettos“, wo im November 1941 6-10.000 russische Juden und Jüdinnen liquidiert worden waren, dorthin, um sich die Hölle mit eigenen Augen anzusehen: Sie sahen eine Wüste, alles zerstört, Hausrat, Scherben, Kleidungsstücke, Körperteile Ermordeter, tote Säuglinge, an denen Ratten nagten. Rudi sagte zu Kurt:
„’Weißt du, im Grunde sind wir auch schuldig an all dem, was hier passiert ist... Wir helfen ja mit in diesem Verein – du, weil du für die Landser Kartoffeln schälst und sie mit neuen Klamotten versorgst und ich, weil ich sie ausbessern helfe.’ Ich musste ihm beipflichten.“ (S. 119) Der aufrechte Gang war hier aussichtslos geworden.
Kurt wurde wie durch ein Wunder von seinem damaligen Arbeitgeber Mitte 1943 gerettet, der meinte, dass Kurt daheim im Betrieb „mehr fürs Vaterland“ tun könne denn als „halber Soldat“ in der Etappe. Gegen Kriegsende wurde Kurt noch ein Trupp jugendlicher Volkssturm-Eiferer zugeteilt, doch er, der eigentlich Befehlshabende, ging einfach nicht zum Einsatz und versteckte sich in Bunkern, bis die Rotarmisten kamen. Er bekam mehrere Vergewaltigungen durch die Rotarmisten mit. Trotz dieser schlimmen Erlebnisse sprach Kurt rückblickend von einer „Befreiung“ vom Nationalsozialismus.

Auseinandersetzungen mit der Literaturdoktrin der DDR

Er hatte das Gefühl, jetzt beim Aufbau mitwirken zu müssen. Von 1945 bis 1950 war Kurt Mitglied der KPD im sowjetischen Sektor bzw. dann der DDR.
Bis zu seiner Pensionierung 1983 sollte er mehrmals den Beruf wechseln. Er arbeitete anfangs sogar kurzzeitig als Polizist, doch fast immer hatte seine Tätigkeit etwas mit Büchern zu tun, ob als Bibliothekar, als Journalist oder als Korrektor von literarischen Übersetzungen.
Schnell geriet er in Konflikt mit der rigiden Literaturdoktrin des Marxismus-Leninismus.
Immer wieder wehrte er sich, so gut er konnte, gegen den stalinistischen Kunst-Formalismus oder gegen den aufkommenden Nationalismus und die Agitation gegen den so genannten bürgerlichen „Kosmopolitismus“. Anlass für seinen Austritt aus der SED 1950 war die Lektüre der Broschüre von Rudolf Rocker: Der Leidensweg von Zenzl Mühsam über deren Leidensweg in den stalinistischen Gefängnissen. Erich von den Nazis ermordet, seine Frau Zenzl in der Sowjetunion gequält, das war zu viel.
Solange die Mauer noch nicht gebaut war, hatte Kurt Kontakt zu Fritz Linow und den alten GenossInnen um die Zeitschrift Die freie Gesellschaft, für die er unter Pseudonym einige Beiträge schrieb.
Nach dem Bau der Mauer arbeitete er lange für die DDR-Fernsehzeitung „FF Dabei“. Das ständige Anecken, das ständige Wechseln der Tätigkeit, das ständige Neuanfangen ermüdete Kurt, der schließlich Kompromisse machte:
„Eine große Anzahl Artikel sind in diesen Jahren (...) aus meiner Feder geflossen – Reportagen, Feuilletons, Interviews, Meldungen und Glossen –, und es war schon absonderlich, wenn sich in meinem Kopf der Streit zwischen dem Zensor und dem Querdenker abspielte. Siegte der Querdenker, bekam ich den Beitrag meist zurück und musste dann doch dem Zensor das Feld überlassen.“ (S. 175)
Nach dem Fall der Mauer beteiligte sich Kurt kurze Zeit bei der „Vereinigten Linken“ (VL), nahm am Hohenschönhausener Runden Tisch teil und gab ein Jahr lang die „Oranke-Post“ heraus, die Teil einer Bewegung freier Zeitungen auf Bezirksebene war, die bald erstarb und an die sich heute niemand mehr erinnert.
Die VL verließ er, als sich dort „Honeckerhörige Altmarxisten und Jungfunktionäre der Stasi“ (S. 184) breit machten.
Er nahm Kontakt zur Umweltbibliothek, zur Freien-ArbeiterInnen-Union und zur Graswurzelrevolution auf. Bei seinem Heidelberger Redaktionsbesuch fiel mir neben seinem sympathischen Auftreten sein fotographisches Gedächtnis auf.
Er konnte sich exakt an einen Schulausflug nach Heidelberg erinnern, den er in den zwanziger Jahren mit seinem Gesangschor gemacht hatte. Er sprach mit großer innerer Befriedigung von seiner Aufgabe als Zeitzeuge für die Wehrmachtsausstellung und den Diskussionen mit Ex-Landsern, die alles verdrängt hatten. In den letzten Jahren seines Lebens reiste er viel, um noch in hohem Alter die Welt zu sehen. Schließlich ließ seine Sehkraft stark nach und er erblindete fast, bevor er nun starb.

Rael

erschienen in der graswurzelrevolution 318 - April 2007

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