ISBN 978-3-86841-006-8
176 Seiten
14 €
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Han
Ryner
Nelti
übersetzt von Augustin Souchy
mit einem Nachwort von Jürgen Mümken
„Wir haben keine Religion.“
„Keine Religion! Das ist ja furchtbar! Wer befiehlt
euch dann, einander zu lieben?“
„Muß man euch befehlen, einander zu lieben?“,
fragte Telo erstaunt.
Und dann fügte sie mit einem spöttischen und gleichzeitig
zärtlichen Lächeln hinzu:
Müßt ihr auch eure Religion haben, die euch zu
essen befiehlt, wenn ihr Hunger habt?“
Han Ryner (1861-1938) gehört zu den vielen bedeutenden
AnarchistInnen seiner Zeit, die heute zumindest in Deutschland
vergessen sind. Mit dieser Veröffentlichung soll diesem
Vergessen ein wenig ent-gegen getreten werden. Ryner war nicht
nur Individualist und gewaltfreier Anarchist, er war auch
Lehrer, Poet, Journalist und Philosoph. Er war antiklerikal,
Vegetarier und Anhänger der freien Liebe und der Freikörperkultur.
In seinem utopischen Roman “Nelti” gibt uns Ryner
einen Einblick in sein philosophisches und politisches Denken,
seiner Vorstellung vom „harmonischen Individualismus“
und seinen Weg zu einer freien Gesellschaft. Ryner lässt
seine Utopie auf die entfernte Insel Atlantis stattfinden,
damit hat er eine klassische Raumutopie verfasst, die ihren
Ausgangspunkt in einen Schiffbruch und die Rettung der Schiffbrüchigen
durch die AtlantInnen hat.
Augustin Souchy über Han Ryner:
„Ryners Gestalt im groben Arbeitskittel, sein vom
wallenden Bart umrahmtes geistvolles Gesicht, erinnerten an
den alten Weisen Griechen-lands, auch wenn man sein Buch 'Des
Sokrates wahre Gespräche' nicht gelesen hatte. Seine
Geschichte des Individualismus im Altertum ist eine wertvolle
Ergänzung der einschlägigen Textbücher, und
wer Diogenes und Epiktet in ihrem eignen Lichte kennenlernen
will, wird zu Han Ryners Schriften greifen. In seinem 'Fünften
Evangelium' blitzt seines Geistes Schwert gegen Krieg und
Barberei“
Es gibt ein französischsprachige Homepage
zu Han Ryner hanryner.over-blog
Rezensionen
Sal Macis: Eine gewaltfrei-anarchistische Utopie. In: graswurzelrevolution Nr 338 - April 2009 mehr ...
Fritz Oerter: Han Ryner: Nelti. In: Der Syndikalist, Nr. 24/1930 mehr ...
Augustin Souchy: Nelti von Han Ryner. In: Besinnung und Aufbruch, Nr. 11/März 1930 mehr ...
Sal Macis: Eine gewaltfrei-anarchistische
Utopie
Der
als „provençalischer Tolstoj“ bekannt
gewordene Südfranzose Han Ryner (1861-1938) war gewaltfreier
Anarchist, Individualanarchist, Lehrer, Schriftsteller
und Philosoph.
Obwohl er über 60 Bücher und Romane verfasste,
die meist ins Spanische übersetzt wurden, wo er auf
eine ganze Generation spanischer Jugendlicher und Kriegsdienstverweigerer
unter der Diktatur Primo de Rivera und während
der zweiten Republik 1931-1936 Einfluss ausübte, sind
nur drei seiner Schriften ins Deutsche übersetzt worden.
Die letzte dieser Übersetzungen stammt von Augustin
Souchy und betraf den 1914 in Frankreich erschienenen Roman „Les
pacifiques“, der 1930 in der Gilde freiheitlicher Bücherfreunde
unter dem Titel „Nelti“ erschien und bis Ende
1931 nur an 63 Gildenmitglieder geliefert worden war. Irgendwo
muss Herausgeber Jürgen Mümken ein Exemplar ergattert
haben und ich freue mich sehr, dass diese politische Utopie
Han Ryners nun in Neuauflage beim Verlag Edition AV erschienen
ist.
Es ist eine der schönsten Utopien, die ich bisher gelesen
habe, weil Ryner versucht, Durchsetzung und Lebensweise
einer gewaltfrei-anarchistischen, zudem vegetarischen
und antisexistischen Gesellschaft zu beschreiben. Dabei
ist die Utopie ganz im Stil der anarchistischen Jugendbewegung
seiner Zeit gestaltet. Mümken erklärt im informativen
Nachwort, dass es sich hier um eine fast schon zu spät
gekommene ‘Raumutopie’ handelt, die eigentlich
im 17. und 18. Jahrhundert üblich war, als die Erde
geographisch noch nicht komplett erschlossen war. Typisch
dafür ist Ryners Konstruktion, seine Idealgesellschaft
als Entdeckung Schiffbrüchiger zu konstruieren, deren
Schiff vom Kurs abgekommen war. Der Kapitän und rund
40 Schiffbrüchige werden von den AtlantInnen, den BewohnerInnen
von Atlantis, gerettet. Später wandte sich die utopische
Literatur fast nur noch den Zeitutopien zu, d.h. der Ort
der utopischen Gesellschaft wurde in die Zukunft verlegt – typisch
dafür ist der Science Fiction-Roman.
Die 800 Millionen AtlantInnen können mittels eines sonderbaren
Fliegegurtes fliegen und erfanden im Laufe ihrer ‘glücklichen
Trennung’ von den ‘Grausamen’, wie sie
die sonstigen ErdbewohnerInnen nennen, allerlei sonderbare
Geräte, Fernkopierer, Fernsichtgerät, Traumrealisator
usw. Doch eigentlich ist es eine Zurück-zur-Natur-Utopie:
die nackten AtlantInnen wecken Erinnerungen an die Freikörperkultur
in der anarchistischen Jugendbewegung in der Zeit vor und
nach dem Ersten Weltkrieg; sie leben in einem natürlichen
Schlaraffenland mit nahrhaften Früchten und haben in
einem langwierigen Prozess die Städte verlassen und
aufgelöst. Sie haben das Geld abgeschafft und leben
vegetarisch.
Schön zeigt Ryner, wie Besitzdenken aus ihrer Vorstellungswelt
bis hin zum Unverständnis gewichen ist, wie ihre Bedarfswirtschaft
mit einer täglichen Arbeitszeit von ungefähr zwei
Stunden funktioniert: eine Papierfabrik z.B. lagert produziertes
Papier bis hin zu einem oberen Strich und hört auf zu
arbeiten, wenn der erreicht ist. Wenn die Leute bis zu einem
unteren Strich Papier für ihren Bedarf abgeholt haben,
fangen sie wieder an zu arbeiten.
Die gewaltfreie Revolution in Ryners Roman hat eine Art imaginärer
Tolstoi entfacht, der hieß ‘Nelti’ – ein
Wort, das in der atlantischen Sprache Bruder, Schwester,
Freund, Mensch usw. bedeutet. Der historische Nelti sammelte
Leute um sich, seine Bewegung schaffte die gewaltfreie Revolution
durch Massendesertion: „Beim ersten Treffen warfen
die Soldaten die Waffen weg, vereinigten sich mit der unschuldigen
Masse, und anstatt zu töten, waren sie bereit, sich
selbst töten zu lassen“. (S. 79)
Überraschend für seine Zeit ist der antisexistische Einschlag des
Romans. Jacques, der Erzähler, der wie fast alle der vierzig Schiffbrüchigen
in Gewalt- und Besitzdenken verhaftet bleibt, zeigt sich beschämt von
der freien und gewaltlosen Lebensweise der AtlantInnen, behält seine
Kleider an und erfährt eine Ablehnung beim schnellen Versuch, sich eine
Atlantin, Meloé, als Sexualobjekt zu unterwerfen: als patriarchalischer
Bewohner Frankreichs seiner Zeit hat er es nicht anders gelernt. Meloé lässt
sich jedoch weder befehlen noch gehorcht sie Jacques’ brachialen Unterwerfungsgelüsten,
die bis zur versuchten Vergewaltigung gehen. Ryners hat hier eine unerwartet
ironische Lösung parat, wie sich Meloé den Versuchen der gewaltsamen
Unterwerfung Jacques’ entzieht. Sie kann dem Fluggurt ihres gewaltsamen
Verfolgers in den Lüften die Flugfähigkeit aberkennen, Jacques
stürzt zur Erde, während Meloé in die Luft entflieht – trotzdem
landet Jacques im letzten Moment sanft auf der Erde: Rache und Vergeltung sind
auf Atlantis ebenfalls undenkbar und Teil der Gewaltideologie.
Spannend wird der Höhepunkt des Romans, eine konterrevolutionäre
Verschwörung der frustrierten 40 Schiffbrüchigen,
geschildert. Sie finden ein paar Waffen in Museen zur Vorgeschichte
von Atlantis und töten Hunderte von gewaltfreien, nicht
gehorchenden, aber auch nicht zurückweichenden AtlantInnen.
Doch anstatt, wie sie hoffen, UnterstützerInnen unter
den AtlantInnen zu finden, lachen diese die Verschwörer
zunächst aus und erfahren ihrerseits immer mehr Unterstützung
durch Hinzueilende aus dem 800-Millionenvolk.
Entnervt, ohne Munition, verunsichert und schließlich
angesichts eines Überläufers aus den eigenen
Reihen geben die Verschwörer ihre Gewaltorgie auf. Nun
werden sie mit Strafe durch die BabrinesInnen bedroht, die
ebenfalls den AtlantInnen zu Hilfe eilen. Die BabrinesInnen
halten am Fleischessen und Jagen mit Waffen fest; sie
teilen zwar die Gewaltlosigkeit der AtlantInnen gegenüber
Menschen – leben jedoch von diesen getrennt auf einer
eigenen Insel, sozusagen in gegenseitiger Toleranz trotz
verschiedener Auffassungen. Die AtlantInnen überzeugen
jedoch die BabrinesInnen davon, die Verschwörer
zu schonen: „Der Hass und die Rache schreien vergebens: ‘Wir
nennen uns Gerechtigkeit’. An ihrer Scheußlichkeit
sind sie erkenntlich. (...) Der Mörder aber, den man
tötet, ist Sieger: er hat einen neuen Mörder erschaffen“.
(S. 147)
Die AtlantInnen schicken letztlich die Verschwörer
zurück zu ihrer Welt der Grausamen, nach Frankreich,
wo dann ihr Chef, der Schiffskapitän, neue Kolonisten
für einen Endkampf mit Atlantis werben will. Doch da
ihm niemand glaubt, dass es Atlantis gibt, wird er wegen
Betrugs vor Gericht gestellt. Auch hier zeigt sich wieder
Ryners Ironie: „Die Richter haben ihn zur Beobachtung
seines Geisteszustandes den Irrenärzten übergeben,
die nun dabei sind, ihn geisteskrank zu machen.“ (S.
150)
Diese Utopie illustriert Ryners Philosophie des „harmonischen
Individualismus“, den Ryner vom kapitalistischen „egoistischen
Individualismus“ absetzt.
Mümken meint im Nachwort, seine Utopie sei statisch,
d.h. eine Idealgesellschaft ohne Konflikte, doch ich meine,
zwischen AtlantInnen und BabrinesInnen wird durchaus
ein zentraler Konflikt aufgezeigt und Atlantis hat ja auch
eine eigene Geschichte mit zentralen Ereignissen (z.B. Verlassen
der Städte), in die sicher auch die gewaltlose Niederschlagung
der Konterrevolution Eingang finden wird – die also
fortgeschrieben wird. [...]
Fritz Oerter: Han Ryner: Nelti
[...] Wir erleben hier eine Reise nach der sagenumwobenen Insel Atlantis und hören, wie sich dort eine glückliche Bevölkerung zur höchsten Kulturreife emporgeschwungen hat. Das Interessanteste an solch einer phantastischen utopischen Darstellung ist aber immer der Rückschluß auf die gegenwärtig herrschenden hyperzivilisierten Zustände, unter denen wir heutzutage leiden und seufzen. Dadurch, dass der Verfasser den reaktionären ‚Ich’-erzähler Jaques, der bis über die Ohren von bürgerlichen Vorstellungen durchtränkt ist, in Gegensatz stellt zu Makami, Meloe und den anderen Atlanten, ist es ihm möglich, die Kontraste zwischen dem Zustand, der ist, und dem Zustand (an dem Beispiel der Atlanten gezeigt), der sein könnte, wunderbar klarzumachen. An all dem, was uns in dieser Welt drückt, Ehe, Kirche, Kapitalismus, Autorität, Militarismus, Gewalt, Krieg, Justiz usw. wird in diesem Buche schärfste Kritik geübt. Die Form, in die diese Kritik gefasst ist, scheint mir sehr glücklich gewählt zu sein.
Augustin Souchy: Nelti von Han Ryner
Das sagenumwobene Land Atlantis, das nach alten Überlieferungen eine mächtige Insel im Atlantischen Ozean gewesen sein soll, die später versunken ist, wird von dem Verfasser wieder erweckt. Vor unwillkommenen Eindringlingen durch ein unzugängliches Schlamm- und Algenmeer geschützt, ersteht im südlichen Teile des Atlantischen Ozeans ein prächtiges Eiland, begünstigt von einem herrlichen Klima, gesegnet mit unermesslicher Fruchtbarkeit. In diesem Lande leben Menschen in vollster Freiheit. Sie haben alle Formen menschlicher Sklaverei überwunden; ihr Gemeinschaftsleben ist vollendete Harmonie, die Persönlichkeit, von jedem Zwang befreit, hat die höchste Stufe der Entwicklung erklommen. Sie leben in Pyramidenhäusern mitten in einer paradiesischen Natur.
Ihre Lebensformen sind einfach, aber kulturell und ethisch hoch entwickelt. Sie kennen weder Herren noch Knechte; Unterdrückung, Ausbeutung und Beherrschung, aber auch Armut und Elend sind ihnen fremd. Kapitalismus und Proletariat, Staat, Kirche und Polizei sind unter ihnen unbekannt. Die Produktion für den Warenmarkt, Handel und Industrie haben sie überwunden. Ihre Wissenschaft hat einen hohen Stand; ihre Entdeckungen und Erfindungen sind den unsrigen voraus. Mit uns unzulänglichen Hilfsmitteln haben sie das Problem des Ikarus gelöst: jeder einzelne kann sich mit Hilfe eines Fliegergurtes in die Lüfte erheben. Unsere Kultur ist ihnen bekannt, sie haben die Möglichkeit, die zivilisierte Welt durch Fernsehen zu beobachten und zu ihr zu gelangen. Sie lehnen es ab und bleiben in ihrer herrlichen Abgeschlossenheit.
Französische Schiffbrüchige gelangen in das Algenmeer und werden von den Atlanten gerettet. Auf der wunderbaren Insel leben sie eine Zeitlang von den Atlanten als Brüder behandelt, ein Leben in Freiheit und Freuden. Doch die Bestie des zivilisierten Menschen ist in ihnen noch zu mächtig. Sie fassen den wahnwitzigen Plan, die friedliebenden und den Menschenmord verabscheuenden Atlanten zu unterjochen, sich ihres Landes zu bemächtigen, Staaten zu bilden, Regierungen einzusetzen, mit einem Wort die ‚Wilden’ zu zivilisieren. Es gelingt ihnen auch, sich der Waffen eines Museums zu bemächtigen und eine Anzahl Atlanten zu töten. Dann aber werden sie durch die höher stehenden Atlanten aus dem Lande und wieder aufs Meer hinausgebracht, von wo sie ihren Weg zurückfinden nach Europa.
Das ist der Roman, den der französische Anarchist Han Ryner, bekannt durch eine Reihe philosophischer literarischer Werke, einen der Schiffbrüchigen erzählen läßt. Spannend in der Darstellung vom Anfang bis zum Ende mit einem dichterischen Schwung geschrieben, gehört dieses Buch zu den besten utopischen Romanen. Es steht über dem Bellamyschen ‚Rückblick aus dem Jahre 2000’, hält den Vergleich mit der ‚Kunde von nirgendwo’ von William Morris aus und ist als der modernste der freiheitlichen Zukunftsromane zu betrachten.
Die Gilde freiheitlicher Bücherfreunde kann es sich als Verdienst anrechnen, dieses Buch in deutscher Sprache herauszugeben.
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