Eine Jahrhundertedition
Gustav Landauer: Werke in (bisher) 12 Bänden. Edition AV, Lich 2008-2016
von Elmar Klink

Seit 2008 hat der kleine anarchistische Verlag Edition AV im nordhessischen Lich bei Gießen damit begonnen, eine beachtenswerte Edition Ausgewählte Werke (jetzt: Werkausgabe) des Anarchisten Gustav Landauer herauszugeben. Inzwischen sind in der stattlichen Reihe zwölf Bände erschienen, wobei die beiden Teilthematiken „Antipolitik” und „Literatur” in je zwei Teilbänden erschienen sind.

Anarchistische Verlage sind hierzulande nicht gerade zahlreich und müssen zumeist permanent am Rand einer Geschäftsexistenz darben. So ist ein solches Projekt mehr als ein Riesengewicht, das es bislang zu stemmen galt und weiterhin zu bewältigen gilt, auch wenn vieles inzwischen geschafft ist und vorliegt. Schon darum gebührt dem Verleger Andreas Hohmann, seinen Verlagsmitarbeitenden sowie besonders dem Publizisten und Herausgeber Siegbert Wolf (Jg. 1954) Anerkennung, Lob und Dank! 

Man wird bei Übersicht der bisherigen Edition aus den Inhalten und Themen gewahr, wer und was mit Gustav Landauer für ein bedeutender Vertreter des deutschen Anarchismus gelebt, gewirkt und gelitten hat. Ja, am Ende auch gelitten, denn er wurde in der ersten kurzen Phase der beiden linken bayerischen Räterepubliken, in welcher Landauer neben geistesverwandten Mitstreitern wie Ernst Toller, Erich Mühsam und dem Freiwirtschaftstheoretiker Silvio Gesell für etwa zehn Tage (!) Beauftragter, also quasi Minister für Volksaufklärung war, von rechten Freikorps verhaftet und am 2. Mai 1919 im Zuchthaus Stadelheim bestialisch ermordet. „Erschlagt den Landauer!“ war damals eine gängige Hetzparole der extremen nationalistischen Rechten bei Kundgebungen auf der Straße und in Zeitungspamphleten, was den Mordentschluss seiner Gegner sicher wesentlich mit befördert und erleichtert hat. Der gleichfalls vor Anschlägen gegen sein Leben vorgewarnte Kurt Eisner („man kann … mich ja nur einmal totschießen“), der aus der Sozialdemokratie kommende, unabhängige Sozialist, Schriftsteller und Ministerpräsident der ersten libertären Münchner Räteregierung, der nur kurz zuvor dem Pistolenattentat des rechten Grafen Arco zum Opfer fiel, hatte Landauer mit dem einzigen Auftrag der „Umbildung der Seelen” nach München geholt. Es gibt nur noch einen (oder bestenfalls mit Erich Mühsam zwei) anderen „Titanen” des deutschen Anarchismus, der eine vergleichbare Bedeutung und langjährige Wirkkraft bis in die 1950er Jahre hinein entfaltete und nationale wie internationale Reputation: Rudolf Rocker (1873-1958). Alle drei sind heute allgemein gesehen so gut wie Vergessene und Unbekannte. Umso mehr ist mit der besorgten AV-Edition der politischen Erinnerung an einen von ihnen und Wiederaufnahme seiner Gedanken ein Glücksfall widerfahren.

Ende der 1990er Jahre hatte der gewaltfrei-anarchistische Verlag Graswurzelrevolution, der eng mit der gleichnamigen, 1972 gegründeten Zeitschrift zusammenhängt, sich mit Vorarbeiten an das kleinere Vorhaben gemacht, eine dreibändige Werkauswahl zu Landauer zur Subskription auszuschreiben. In deren Verlauf kam es allerdings zwischen dem Verlag und einem der zentralen Mitwirkenden, Siegbert Wolf, zu das Verfahren betreffende Unstimmigkeiten und schließlich zum Ende der Zusammenarbeit, bevor sie richtig Gestalt annehmen konnte. „Die Geschichte der begonnenen und allzu früh gescheiterten Landauer-Ausgaben seit den 1960er Jahren (Hans-Joachim Heydorn), 1970er Jahre (Kramer Verlag), in den 1980er Jahren durchaus konkret bei ‘Lambert Schneider’ mit dem früh verstorbenen Frankfurter Germanisten Norbert Altenhofer usw. … zu schildern, würde einen dicken Band füllen.“ (S. Wolf) Von Landauer waren im Lauf der Jahrzehnte nach seinem frühen Tod, besonders wieder seit den späteren studentinnenbewegten 1960er Jahren immer wieder Neu- bzw. Wiederherausgaben von einzelnen wichtigen Werken und Aufsatzsammlungen in verschiedenen bearbeiteten Bänden erschienen, darunter solche Schriften wie „Die Revolution” (1907), „Aufruf zum Sozialismus” (1911), „Der werdende Mensch” (Neuauflage 1980) oder „Skepsis und Mystik. Versuche im Anschluss an Mauthners Sprachkritik” (1903). Immer wieder machten sich Kleinverlage, aber auch renommierte Häuser wie EVA, Suhrkamp oder Luchterhand daran, vor allem Aufsätze von Landauer in einzelnen Sammelbänden (Anthologien) herauszugeben. Jede Seite pickte sich praktisch das heraus und stellte es in den Vordergrund, was von Landauers Werk ihrer eigenen Intention entsprach. So entstand über die Editionslage ein verzweigtes und unübersichtliches Bild, durch das sich der Herausgeber einem Wust gemäß hindurch finden und hindurcharbeiten musste. Kein einfaches Unterfangen, vor allem eines, das viel Zeit, Geduld und Beharren abverlangte. Der Landauer-Nachlass befindet sich im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IISG) in Amsterdam. Das Projekt ist mit der Vorgabe eines Bandes pro Jahr mittlerweile über den ursprünglich geplanten Rahmen hinaus fortgeschritten gediehen und gelungen und soll, wenn man den Verlegerworten trauen möchte, „alles von Landauer” peu à peu wieder zu veröffentlichen, irgendwann auch einen Abschluss finden, der noch nicht absehbar scheint. Dann wird es sich „Gesamtwerk” oder „Sämtliche Werke” nennen dürfen.

Bisher sind folgende zwölf Bände erschienen: 1. Internationalismus (2008); 2. Anarchismus (2009); 3.1 Antipolitik, Teilband 1 (2010); 3.2 Antipolitik, Teilband 2 (2010); 4. Nation, Krieg und Revolution (2011); 5. Philosophie und Judentum (2011); 6.1 Literatur, Teilband 1 (2013)); 6.2 Literatur, Teilband 2 (2013); 7. Skepsis und Mystik (2011); 8. Wortartist. Roman, Novelle, Drama, Satire, Gedicht, Übersetzung (2014); 9. Birgit Seemann: „Mit den Besiegten”. Hedwig Lachmann (1864-1918). (Lachmann war Landauers Frau und politische Lebensgefährtin); 10. Tilman Leder: Die Politik eines „Antipolitikers”. Eine politische Biographie von Gustav Landauer (2014; 2 Bände); 11. Aufruf zum Sozialismus (2016); 12. Hölderlin in seinen Gedichten (2016).

Allein schon mit den ausführlichen, anmerkungsreichen wie akribischen Einleitungen des Herausgebers zu jedem Band entsteht im Gesamten eine umfassende, genau und faktenreich kommentierende Werkanalyse, wie sie keine Biographie leisten könnte. Was im Editionsplan bisher fehlt, wäre ein bei dem gegebenen wie noch angestrebten Umfang angebrachter Registerband. Ein 2011 bei AV gesondert erschienener, illustrierender Begleitkatalog zur Landauer-Ausstellung „Der Werdende Mensch” (69 S.) wurde nicht in die Edition integriert. Eine Überlegung wäre auch, wie mit Landauers umfangreichem Fundus an persönlichen wie politischen Briefen mit zahlreichen ZeitgenossInnen verfahren werden soll, der teilweise schon umfangreich anderswo gesammelt und publiziert vorliegt (Gustav Landauer - Sein Lebensgang in Briefen. Frankfurt 1929; Gustav Landauer - Fritz Mauthner. Briefwechsel 1890-1919. München 1999). Über die Editions-Bände verteilt sind bereits thematisch und historisch passend eine Reihe von Briefen aufgenommen.
  
Gustav Landauer (1870-1919) ist ein anarchistischer Autor und revolutionärer Aktivist, der nicht nur selbst vielseitig kulturell orientiert und politisch engagiert war. Als „Antipolitiker” und „Antiideologe” erfuhr sein Werk und persönliches Wirken über die Jahrhundertwende hinweg von verschiedener Seite, von revolutionär-politischer bis zu lebensreformerisch-alternativer (Monte Veritá) und auch religiös-sozialistischer eine für einen Anarchisten bemerkenswert „bunte” und differenzierte Rezeption. Das vielfältige Echo auf ihn widersprach (und widerspricht) dem Eindruck, man habe es mit Anarchie und Anarchismus mit einer relativ hermetischen, einseitigen, radikalen Theorie und Ideologie zu tun, einer gewalttätigen Bewegung womöglich, die gegen den Willen der Menschen den Staat abschaffen, Gott und die Religion bekämpfen und das allgemeine Chaos erzeugen und schüren will. Noch heute sprechen renommierte bürgerliche MedienvertreterInnen, wenn sie von Staatszerfall, Volksaufruhr, blutigen Unruhen und bürgerkriegsartigen Kämpfen überall auf der Welt berichten, gerne mutmaßend davon, dass dort „Anarchie herrsche”. Abgesehen davon, dass Anarchie nicht „herrscht”, sondern Nichtherrschaft oder Herrschaftslosigkeit bedeutet, was die freie vertragliche Vereinbarung und egalitäre Assoziation zugrunde legt, verraten sie heute damit lediglich ihr politisches und historisch-philosophisches Halb- oder Unwissen bzw. wider besseres Wissen ihre Absicht, das A im runden Kreis und seine AnhängerInnen zu diffamieren, herabzuwürdigen und sogar zum Symbol für linksextremistischen „Terrorismus” zu entstellen. Mit all dem hat Anarchie und Anarchismus als Idee, Lehre, Philosophie, Überzeugung, Lebensart usw. nichts zu tun. Landauer gehörte als Vertreter eines ethischen Anarchismus zu denen, die dies unentwegt betonten und in Äußerungen schriftlicher und rednersicher Art kämpferisch zum Ausdruck brachten.
 
Hier ist nicht der Platz, Landauers Leben und Wirken im Detail nachzuzeichnen und die Epoche, in der er lebte, in Ereignissen und Abläufen wiedererstehen zu lassen. Eine sehr brauchbare übersichtliche Darstellung lieferte Siegbert Wolf mit dem Junius-Bändchen „Gustav Landauer zur Einführung” (Hamburg 1988). Nur drei Aspekte seien näher angesprochen und kurz nachgezeichnet. Landauers Physis war von hagerer, groß gewachsener Gestalt, sein später von einem vollen Bart umrahmtes Gesicht wirkte dünn und knöchern, fast asketisch und trug markante Züge mit eingefallenen Augen wie fast bei einem Hungernden. Er wirkte wie ein bereits halb vergeistigtes Wesen, wenn er mit einem langen dunklen Mantel und Hut dahin schritt. Schon von daher verkörperte er nicht den Typ des robusten Straßenkämpfers oder körperlich präsenten Militanten. Er war immer Anhänger und Repräsentant des Geistes und Geistigen, wenngleich stets in scharfer sprachlicher Präzision. Er vertrat als besonders vor und im Ersten Weltkrieg gegen Krieg und Militarismus anschreibender und agierender Anarchopazifist und Antimilitarist die Position der Nichtgewalt in der Politik, der Überzeugung, wenn nötig auch in scharfer zugespitzter Rede und vermittelndem Dialog, des Vorlebens am Beispiel. In seiner Programmschrift „Aufruf zum Sozialismus” und den Aufsätzen in der Zeitschrift „Der Sozialist“ vertrat er den Gedanken, nicht auf politischen Machtwechsel und den Tag des einmaligen und womöglich gewaltsamen Umsturzes des Bestehenden zur Errichtung von etwas Besserem, Neuem zu warten und abzuzielen. Die Menschen sollten vielmehr selbstbewusst damit beginnen, sich praktisch für ihre Ideen einzusetzen und zu Tat und Werk schreiten, wenn es auch nur in bescheidenen ersten Ansätzen und Ausmaßen geschehen könnte. Das entschiedene Tun, Beginnen und Werden stand für ihn im Vordergrund. So sollte sich das Neue aus dem Alten nicht nur revolutionär, sondern auch evolutionär herausbilden. Der kommunitäre alternative Aufbruch nach dem 1968er-Kulturschock knüpfte daran an.

Die vielen kleinen begonnenen Initiativen sollten sich dann zu föderieren suchen und einen Sozialistischen Bund begründen als eine politische Kraft und Bewegung im Aufbau. Landauer vertrat die Idee des freiheitlichen Föderalismus. Es kam daher nicht von ungefähr, dass er für viele auch noch nach seinem Tod zu einem Weckrufer und Anreger von Siedlungsprojekten wie ab 1920 für die urchristlichen Bruderhof-Gemeinschaften um den Theologen und persönlichen Freund Eberhard Arnold in der hessischen Rhön südlich von Fulda wurde, wo sie heute u. a. in Sannerz wieder eine kleine Gemeinschaft bilden. Oder noch viel weiter gesteckt die Bewegung für Siedlung und Kommunität in Form der jüdischen Kibbuzim und sozialistischen Genossenschaften in Palästina, die, obwohl unter 3 % Anteil in der jüdischen Bevölkerung, später mit zur Keim- und Gründungszelle des Staates Israel wurden. In der versprengten europäischen und überseeischen Diaspora des jüdischen Volkes hatten Anarchie und Anarchismus immer eine starke sichere Heimstatt, was auch mit egalitären und Befreiungs-Elementen und Traditionen in der Geschichte des Volkes Israel zu tun hat. Gleichwohl war der nicht praktizierende Jude Landauer weit davon entfernt, politischer Zionist im Sinne eines um jeden Preis den nationalen Judenstaat betreibenden Theodor Herzl zu sein, der andere in Palästina Lebende zwangsläufig ausgrenzen musste. Der Spruch, „’Zionist’ kann man sein, damit ist nichts gegen die Natur des andern, nur etwas für die eigene gesagt; Antisemit, das geht nicht unter Menschen”, stammt von Landauer. Zeitlebens verband ihn mit dem jüdischen Sozialisten und Religionsphilosophen Martin Buber („Pfade in Utopia”) eine enge, einander gegenseitig beeinflussende und ergänzende, tiefe Freundschaft.
Dieser Ansatz schließt den der gewaltsamen Konfrontation oder bewaffneten Überrumpelung und Unterdrückung aus, wie sie heute oftmals vom israelischen Staat gegenüber seinen Nachbarn und den PalästinenserInnen ausgeübt werden. Landauer wollte die Herzen und den Geist der Menschen gewinnen und überzeugen, ihr freiwilliges Mitwirken entfachen, Getreue sammeln. Auch wenn es im nahen Umfeld seiner Münchner Rätezeit nicht ohne verteidigende Gewalt mit Waffen ging. Diese stand aber nie in einem auch nur vergleichbaren Verhältnis mit der Gewalt und dem Terror der Reichswehr-Militärs und militanter Freikorps von rechts, hinter denen die politische Reaktion stand, welche schließlich das Räteexperiment in Bayern und auch anderswo in höchstem Staatsauftrag blutig mit vielen Verletzten, Verhafteten und Toten abwürgten und beendeten. Was dann bald folgte, waren die braune Gewalt auf der Straße, Verfolgung und Terror gegen Minderheiten, Vernichtungs- und Todeslager und Kriege gegen ganze Völker. So gesehen steht Landauer auch für ein „anderes Deutschland“ des Friedens, der Freiheit und der kulturellen Verständigung, was gerade heute in Zeiten der breiten, hässlichen Abwehr gegen die Geflüchteten der Welt ein ermutigendes Zeichen ist. 

Die Landauer-Edition bei AV vermittelt spektral nahezu vollständig den „ganzen” Landauer: den politischen wie kulturellen, den weltlich-jüdisch-religiösen wie atheistischen, den radikalen Revoltierenden wie den zu sozialen Reformen gewillten, den wortartistisch-literarischen wie mystisch-sprachkritischen - den Menschen, Politiker, Denker, Philosophen, Kropotkin-, Tagore- und Shakespeare-Übersetzer und begabten Redner.
Es ist eine reiche Fundgrube, die da auf jede/n Lesende/n wartet. Illustrationen zur Reihe lieferte der Künstler Uwe Rausch. Alle Bände sind in kartonierter Aufmachung, bis auf die zweibändige politische Biographie (Bd. 10; 49,90 Euro) und Bd. 5 (22 Euro) mit 18 Euro Kosten erschwinglich veranschlagt bei unterschiedlichem Umfang zwischen ca. 250 bis 450 S.

erchienen in Graswurzelrevolution Nr. 413, November 2016

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