ISBN 978-3-936049-66-4
392 Seiten
24,50 €

 

 

Michel Ragon
Das Gedächtnis der Besiegten

Historischer Roman, übersetzt von Michael Halfbrodt

"Das Gedächtnis der Besiegen", im Original 1990 erschienen, ist ein Historienroman, der vesucht, die politische Geschichte des 20. Jahrhunderts in ein großes, erzählerisches Panorama zu fassen. Über die Biographie einer fiktiven Hauptfigur (die gleichwohl eine Synthese verschiedener realer Lebensläufe darstellt) werden die wichtigsten Etappen und Wendepunkte dieses Zeitalters miteinander verknüpft und aus anarchistischer Sicht geschilkdert.
Der "Held", Fred Barthélemy, wächst am Vorabend des ersten Weltkrieges im Pariser Anarchistenmilieu auf, gelangt während des Krieges als Mitglied einer französischen Militärmission nach Russland, wird Beobachter und Beteiligter der revolutionären Ereignisse und Machtkämpfe, kehrt desillusioniert in das Frankreich der Zwischenkriegszeit zurück, arbeitet als Schlosser bei Renault, macht sich einen Namen als politischer Publizist, nimmt am spanischen Bürgerkrieg teil, verbringt den zweiten Weltkrieges als Antimilitarist in Haft und gehört schließlich in den Nachkriegsjahren zu den Vergessenen, die erst in Zeiten eines erneuten politischen Aufbruchs (Mai 68) wieder ins Rampenlicht getreten sind.
Der Verfasser, Michel Ragon (Jahrgang 1924), war in Frankreich bereits als Kunst- und Architekturkritiker bekannt, bevor er anfang der 1980er Jahre auch als Romancier den Durchbruch schaffte. Als Kunstkritiker ein Verfechter der Avantgard, geht Ragon in seinem literarischen Werk einem anderen Weg. In seinem oft mit autobiographischen Bezügen versehenen Geschichtsromanen knüpft er an die Tradition des reralistisch-naturalistischen Erzählens an und ziehlt darauf ab, mit klar strukturierten Geschichten ein Massenpublikum zu erreichen.
Wie in seinem bekanntesten Roman "Die roten Tücher von Cholet" (dtv), der dem Massenmord an der aufständischen Bevölkerung der Vendée (Provinz in Westfrankreich) während der französischen Revolution thematisiert, geht es Ragon auch in "Das Gedächtnis der Besiegen" darum, die aus der offiziellen Geschichtsschreibung verbannten Kämpfe vergessener und besiegter Sozialbewegungen wieder ins Gedächtnis zu rufen.

Leseprobe in der graswurzelrevolution
Erinnerungen eines Unbesiegten. Gespräch mit dem libertären Schriftsteller Michel Ragon mehr ...

Rezensionen

Oliver Steinke: "Das Gedächtnis der Besiegten" in: Gegenwind mehr ...
Ralf Burnicki: "Das Gedächtnis der Besiegten" in: Die Brücke Nr. 144, April 2007 mehr ...
Sal Macis: "Grandioser Roman gegen das Vergessen" in: graswurzelrevolution Nr. 317 - März 2007 mehr ...
Steffan Mozza: "Geschichte wiederholt sich" in: Zwischenberichte minus2 - September 2006 mehr ...

Oliver Steinke: Das Gedächtnis der Besiegten
Dieser biographische Roman über die Entwicklung der revolutionären Strömungen im 20. Jahrhunderts füllt eine Lücke im deutschsprachigen Raum, die der Faschismus gerissen hat, und die seitdem nie mehr ganz geschlossen wurde.
Das Straßenkind Fred Barthélemy, geboren 1899, gerät bereits vor dem ersten Weltkrieg durch Zufall in anarchistische Kreise, als er mit seiner Jugendliebe Flora durch die Gassen Paris zieht.
Der erste Weltkrieg reißt ihn von Flora und den gemeinsamen Sohn der blutjungen Eltern, Germinal, weg, hinein in das Gemetzel der Schützengräben. Weil er russisch spricht, wird Fred für eine französische Militärdelegation ausgesucht, die im revolutionären Russland die Lage sondieren soll. So beginnt der erstaunlichste Abschnitt im Werdegang Barthélemys, der ihn, als er als noch einfacher Soldat die französische Delegation verlässt, an die Seite von Lenin, Sinowjew und Trotzki führt. Es werden hierzulande völlig unbekannte Eindrücke geschildert wie die, dass die Revolution im Oktober 1917 fast im „Alkohol ersoffen wäre.“
„ … der Alkohol wurde zu einem reißenden Strom, selbst die Roten Garden wurden von dieser Orgie mitgerissen. Ganze Panzerbrigaden kamen zum Einsatz, um die Menge zu zerstreuen. Sie bahnten sich ihren Weg durch die Menschenmasse, zertrümmerten einige überdimensionale Champagnerflaschen, und am Ende begannen die Panzer im Zickzack zu fahren, durch die Wände der Weinkellereien zu brechen und in geschlossene Kneipen zu rasen. Feuerwehrmannschaften, die den Auftrag hatten, die Keller unter Wasser zu setzen, betranken sich ihrerseits….“
Noch glaubt der frühere Anarchist Barthélemy an die russische Revolution, deren Agenten der frischgebackene Komintern Mitarbeiter bald nach Frankreich schleust. Trotzki begegnet er in dessen Panzerzug:
„Trotzki hatte die Gabe, Mythen zu schaffen, vor allem natürlich seinen eigenen Mythos….Zu einer Zeit als, als die mächtige Zarenarmee auseinander fiel und sich selbst aufgab, erschien der Panzerzug als das unvergessliche Bild einer neuen Macht. Er erweckte auch alte Ängste zu neuem Leben, die vor dem unbesiegbaren, Feuer speienden Drachen, vor der Riesenschlange, all diesen der Hölle entsprungenen Monstern. Gerade als die Revolution sich bemühte, Armee und Bürokratie zu zerstören, brachte der Panzerzug dem ganzen Land eine Vorstellung von Macht zurück, die zwar flüchtiger Natur, aber umso Furcht erregender war, als sie wie aus dem Nichts auftauchte, vor Ort Entscheidungen traf und mit unbekanntem Ziel wieder verschwand.“
Mit unbekanntem Verbleib verschwinden bald auch immer mehr russische Anarchisten und andere frühere Mitstreiter der Bolschewiki, die die zunehmende Erdrosslung der Sowjets durch die Bürokratie der Partei kritisieren. Barthélemy flieht schließlich mit geheimen Dokumenten seines Chefs Sinowjews in den Westen. Dort schenkt ihm kaum jemand Glauben, nicht einmal Gehör, als er die erste Kritik eines Libertären an der Russischen Revolution herausbringt: „Saturn verschlingt seine Kinder“.
Als abtrünniger Kominternmitarbeiter und Libertärer hat er einen schweren Stand unter seinen Arbeitskollegen bei Renault, unter denen der kommunistische Einfluss zunimmt. Die französische Politik der zwanziger und dreißiger Jahre in Paris wird verständlich, wir lernen Flüchtlinge wie den ukrainischen Bauernführer Nestor Machno oder den spanischen Anarchisten Durruti kennen. Letzteren folgen Barthélemy und sein Sohn Germinal in die Wirren des Spanischen Bürgerkriegs, ein weiteres fesselndes Kapitel des Buches, das man nicht mehr aus der Hand legen möchte.
Die Übersetzung von Michael Halfbrodt ist unerhört gut, an keiner Stelle merkt man, dass der Ursprungstext übertragen wurde. Die klare, kraftvolle, zuweilen sehr feinfühlige Sprache Michel Ragons (Träger des Alexandre Dumas Preises von 1984) kommt unverfälscht zum Ausdruck. Der Verlag Edition AV hat mit dieser spannenden Biographie eines Aktivisten der beiden großen europäischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts allen an Politik und Gesellschaft Interessierten ein großartiges Geschenk gemacht.

Ralf Burnicki: Das Gedächtnis der Besiegten
»Schaut, Kinder«, sagte Valet. »Hier rechts stehen Romane und Gedichte. Links Soziales und Politik. Auf der einen Seite der Traum, auf der anderen die Aktion. Wenn ihr erst beides habt, könnt ihr die Welt erobern«. In diesem Augenblick entdeckt Fred am Vorabend des Ersten Weltkriegs in einem anarchistischen Buchladen seine Leidenschaft für das Lesen. Fred lebt in Paris als obdachloses Kind, das Unterschlupf bei AnarchistInnen findet und beginnt, sich über das Lesen für die anarchistische Utopie von Herrschaftsfreiheit und sozialer Gleichheit zu begeistern. Fred lernt also lesen, ganz gegen den Willen seiner Gefährtin Flora, die - ebenfalls noch ein Kind - ein wildes, radikal ungebundenes Leben anstrebt. Für sie ist Lesen bereits eine unangebrachte Anpassung an gesellschaftliche Vorgaben. Freds Leben im Pariser Anarchistenmilieu macht ihn zum Zeitzeugen sozialer Kämpfe gegen die autoritäre Staatsmacht, gegen den Polizeistaat, gegen Kapitalismus und soziale Ungerechtigkeit. Um selbstständiger zu werden, entschließt sich Fred zu einer Schlosserlehre. Doch kaum zu eigenständigem Denken und Handeln in der Lage, wird er mit 16 Jahren zum Militär eingezogen. Er muss Flora und seinen soeben geborenen Sohn in Paris zurücklassen, um sich im Schlachthaus des Krieges einzufinden. Da steht nun also »Fred mit seinem Militärmantel, seinen Wickelgamaschen, seiner Feldmütze«, selbst zum »Bullen« und zur Negation der Freiheit geworden. Flora sieht ihre Sichtweise in Freds Kapitulation bestätigt: Die Gesellschaft passt einfach jeden an, und sogar politischer Widerstand dient der Aufrechterhaltung von Herrschaft (S. 65 und S. 61).

Weder Freiheit noch Gleichheit: Das Elend der russischen Revolution

Mitten im Kriegsgemetzel erhält Fred wegen seiner Russischkenntnisse die Gelegenheit, als Teil einer französischen Militärdelegation nach Moskau zu reisen. Dort desertiert er, um an der russischen Revolution mitzuwirken. Aus der Augenzeugenperspektive Freds treffen die LeserInnen nun mit den Gestalten des russischen Parteikommunismus zusammen (Lenin, Trotzki u.a.), erleben die brutale Diktatur der Parteiführung, die Unterdrückung von Emanzipationsbestrebungen linker Sozialrevolutionäre und AnarchistInnen, sie erleben Einzel- und Kollektivschicksale (Vernichtung der Kronstädter Rätedemokratie), die verelendende Bevölkerung und niedergeschlagene Hoffnungen auf eine selbstbestimmte Gesellschaft, die in den Abgründen von pseudorevolutionärem Parteikonformismus, Geheimpolizei (Tscheka), Bürokratismus und Antisemitismus untergehen. Auch Freds neue Liebe Galina bietet seiner Enttäuschung keinen Ausgleich zu dieser Erkenntnis: Diese Revolution bietet weder Freiheit noch Gleichheit, an die Stelle erträumter Herrschaftsfreiheit tritt eine neue (Partei-)Elite und eine neue Herrschaftstechnik, die mobile Regierung, der Panzerzug Trotzkis, der wie ein Schreckgespenst allerorts auftaucht als Vorbote einer neuen überterritorialen Macht: »Es war eine Art fliegender Regierung, überall und nirgends zu finden, die, wenn sie mitten auf dem Land Halt machte, mit Maschinengewehren bestückte Automobile ausschwärmen ließ... Die Macht des Zuges schien sich auf diese Weise noch zu vergrößern. Er gebar mechanische Monster, die in der Dörfern und Ortschaften auftauchten wie die Engel der Apokalypse« (S. 82). Was sich hier ankündigt und in den nächsten Jahren abspielt, ist bloßer Terror der Bolschewiki, der das Land in Armut und Depression stürzt und die russische Revolution im rigiden Gegensatz von Utopie und Realität enden lässt. Die Parteikader werden fortan »den Staat gegen die Arbeiter und nicht die Arbeiter gegen den Staat verteidigen« (S. 145). Kurz vor der Machtübernahme Stalins gelingt es dem (zum politischen Sekretär mutierten) Fred, nach Rumänien zu fliehen. Wieder lässt er eine Gefährtin zurück und einen gemeinsamen Sohn, diesmal auf russischer Seite. Sein Sohn war einige Zeit zuvor - gegen den Willen Freds - von der Partei in eine bolschewistische Erziehungseinrichtung überführt worden. Im Gepäck trägt er eine Kopie des Testamentes von Lenin.

Die Sehnsucht nach Herrschaftsfreiheit

1924 zurück in Paris, findet Fred eine Schlosserstelle bei Renault. Er zieht sich ins Privatleben zurück und gründet eine Familie, stößt dann jedoch unverhofft auf den ukrainischen Bauernkämpfer Machno, den seine Flucht vor der Roten Armee nach Paris verschlagen hat. Fred schließt Freundschaft mit Durutti und macht sich einen Namen als politischer Publizist, er folgt Durutti in den spanischen Bürgerkrieg, und wieder findet sich Fred mitten im Strudel revolutionärer Strömungen. Und Flora? Nun, das ist eine weitere Geschichte, die hier nicht vorweggenommen werden soll.
Der Roman »Das Gedächtnis der Besiegten« hält die Erinnerung an emanzipative und nach Herrschaftsfreiheit strebende Bewegungen im 20. Jahrhundert mit ihren Irrungen und Perspektiven aufrecht und schafft damit eine Voraussetzung für eine reflektierte Vision für die Zukunft. Störend empfinde ich den Roman, wo er mit der These in die Irre führt, Faschismus sei ein Abkömmling des Sozialismus (S. 263) sowie manche Ungereimtheit, beispielsweise Textabschnitte mit einem klischeebesetzten Frauenbild (S. 290, 351 o.) oder die extreme Unwahrscheinlichkeit, dass - so im Roman geschildert - ein Anarchist einen Rassisten unterstützt (S. 347 f.). »Das Gedächtnis der Besiegten« lässt allerdings Geschichte hautnah erleben und LeserInnen treffen auf eine spannende Mischung aus politischem Milieu- und Geschichtsroman. Fred ist dabei (so der Ragon-Übersetzer Michael Halfbrodt anlässlich einer Buchvorstellung) die »Verkörperung eines kollektiven Gedächtnisses über die sozialen Kämpfe« und in ihm versinnbildlicht sich zugleich die Tragik jener, die sich von der Revolution soziale Gleichheit versprachen, ihr Leben dafür einsetzten und bitter enttäuscht wurden. Die immer neu entstehende Herrschaft benutzte sie, drängte sie an den Rand, verfolgte sie, brachte sie in Gefängnissen um, und in einem letzten Schritt werden sie dann von der Landkarte der Geschichte gefegt: »Die Revolutionen haben, wie die Religionen, zunächst ihre Helden und Märtyrer. Dann kommen die Bürokraten und der Klerus. Die linken Sozialrevolutionäre weigerten sich beharrlich, sich zu bürokratisieren, sie lehnten es ab, aus der Revolution eine Kirche zu machen. Sie verurteilten sich folglich selbst dazu, in jenem berüchtigten „Mülleimer der Geschichte“ zu verrotten, den Trotzki allen seinen Widersachern so großzügig anempfahl« (S. 166). Das Gedächtnis aber zu bewahren und die Vision von Selbstbestimmung und sozialer Gleichheit nicht aus den Augen zu verlieren, dies scheint das Hauptanliegen des Romans, der spannend und flüssig geschrieben ist und Handlungsstränge angemessen bündelt. Letzteres ist bemerkenswert angesichts der Vielzahl von Persönlichkeiten, die namentlich genannt und deren politische Absichten und interne Beziehungen aufgeblättert werden. Diese Detailvielfalt zu erfassen, ohne den Spannungsbogen auszuleiern, dies kann als schriftstellerische Leistung Ragons angesehen werden, dessen Roman uns Revolutionen aufschließt wie eine verborgene Tür.


Sal Macis: Grandioser Roman gegen das Vergessen
(...) Es ist dem Verlag, dem Übersetzer Michael Halfbrodt und den Spendern für den Ankauf der Rechte zu danken, dass sie dieses Riesenprojekt in die Praxis umsetzen konnten. Denn Das Gedächtnis der Besiegten ist ein großartiger Geschichtsroman, in dem eine fiktive Figur, Fred Barthélemy, alle großen Ereignisse des 20. Jahrhunderts aus Sicht eines französischen Anarchisten durchlebt: die Zeit des libertären Pariser Milieus vor dem Ersten Weltkrieg, die russische Revolution, das pazifistisch-anarchistische Milieu der Zwischenkriegsjahre, die spanische Revolution und die Nachkriegszeit in Paris. Beim Lesen musste ich mir immer wieder klar machen, dass es sich um Fiktion handelt, so hautnah und eindringlich sind die Szenen beschrieben. Um Fred tauchen reale historische Personen auf, Lenin, Trotzki, Emma Goldman, Maria Spiridonowa, Alexandra Kollontai, Nestor Machno, Buenaventura Durruti, Louis Lecoin, Paul & Léona Delesalle, Victor Serge, Rirette Maîtrejean. Fred tritt mit ihnen in Kontakt, bespricht mit ihnen die Lage, geht Freundschaften ein und beschreibt sie von einer nahen, menschlichen Seite.
Das Buch erzählt eine Innenansicht der Gefühle libertärer Besiegter des 20. Jahrhunderts und bewahrt so deren Andenken, für das sich die herrschende Geschichtsschreibung nicht interessiert, denn die erzählt nur von heldenhaften Siegern. Besonders beeindruckend ist etwa die Beschreibung des exilierten Nestor Machno im Pariser Exil der 20er und 30er Jahre, der sich nicht zurecht findet, den Anschluss ans libertäre Milieu verliert, vereinsamt und sich schließlich gar in die Möglichkeit eines Bündnisses mit Stalins Militärs versteigt, um mit diesen stärkeren Bataillonen Trotzki, Machnos erklärten Hauptfeind, endlich zu besiegen.
Die Figur Fred ist zwar fiktiv, Ragon hat sich dabei aber an biographischen Erfahrungen aus dem Leben von Gaston Leval für Russland und Spanien und von Henri Poulaille für Kindheit und Alter orientiert. Fred ist in gewissem Sinne eine paradigmatische Figur für die eigentümliche französische Sicht auf die Revolutionen in Russland und Spanien. Viele französische AnarchistInnen der Vorkriegszeit, so auch Victor Serge, ließen sich von Lenins „Staat und Revolution“ täuschen, und traten nach 1918 der KP und der Kommunistischen Internationale bei.
Auch Fred geht nach Russland und wird dort Ideiny, zählt also zu jener libertären Fraktion, die zunächst mit den Bolschewiki kollaboriert. Erst langsam, in einem schmerzhaften Prozess und beim Erleben der AnarchistInnenverfolgungen wird ihm klar, dass er sich geirrt hat und verfasst nach seiner Rückkehr Mitte der zwanziger Jahre in Paris ein Manifest gegen die russische Diktatur des Proletariats.
Doch die französische Linke, auch das ist eine Essenz der historischen Erfahrungen im Frankreich der 20er und 30er Jahre, will davon nichts wissen und lehnt sich mehrheitlich an die stalinistische KP an. So verhallen die Warnungen von Fred im Nichts und in der spanischen Revolution werden die AnarchistInnen und unabhängigen SozialistInnen ein weiteres Mal von den KommunistInnen verraten und verfolgt. Das ist die Lebenserfahrung vieler älterer AnarchistInnen Frankreichs und Spaniens, die deshalb mit den jungen 68er StudentInnen, die Marxismus und Anarchismus versöhnen wollten, nichts anfangen konnten. Das Buch ist gleichzeitig ein flammender Aufruf für Kontaktaufnahme und Gespräche mit AltanarchistInnen, auch für Archivarbeit, damit deren Erfahrungen nicht verloren gehen.
Ragon ist es hoch anzurechnen, dass er in diesem Riesenwerk immer wieder vergessene Nebenlinien und Minderheitenströmungen beschreibt, wie etwa die libertär-christliche Gruppe um Nikolaj Berdjajew in Russland, deren Anhänger Fred im Pariser Exil wiedertrifft.
Ragon erzählt sensibel von der großen Verbreitung pazifistischer Tendenzen im anarchistischen französischen Milieu der Zwischenkriegsjahre, die auf die Erfahrungen des massenhaften Mordens im Ersten Weltkriegs zurückgehen.
Es wird im Roman deutlich, welch immense Bedeutung Louis Lecoin für die Entwicklung des französischen Anarchismus von den 20er bis in die 60er Jahre hatte. Doch es war auch ein Pazifismus, dem die Kampfmittel der massenhaften direkten gewaltfreien Aktion unbekannt blieben und der deshalb immer wieder darauf zurückgriff, sich mit Appellen an die Herrschenden zu wenden.
Im Detail finde ich einzelne Personen zu positiv dargestellt, etwa Alexandra Kollontai, die Fred geradezu bewundert. Ragon verschweigt dabei ihre Mittäterinnenschaft bei der Niederschlagung des Kronstädter Aufstands 1921 oder die Taten ihres Ehemanns Dybenko, der als Befehlshaber der Roten Armee an der Unterdrückung der Machno-Bewegung beteiligt war.
Auch bei der Beschreibung der Stalinismuskritik im französischen Milieu der dreißiger Jahre gibt es eine große Abwesende, Simone Weil, die ich gerne im Roman gesehen hätte.
Doch das Buch ist so reichhaltig an kurzweiligen Erzählungen über Vorkommnisse und Personen - auch kritischer Art, wie etwa über Romain Rolland, dessen Übergang von Gandhi zu Lenin und sogar zum Stalinismus in den dreißiger Jahren alle Libertären vor den Kopf stieß -, dass diese kleinen und subjektiven Einwände dem Eindruck keinen Abbruch tun, dass es sich hier um ein wundervolles Buch handelt, um eine andere Art, sich anarchistische Geschichte vorstellbar zu machen.

Steffan Mozza: Geschichte wiederholt sich
Als ich Ende der 1990er Jahre die Schnauze voll hatte vom Politzirkus, widerholte ich im Kleinen, was Fred, dem Protagonisten des Buches "Das Gedächtnis der Besiegten", im Grossen widerfuhr: Er war dabei. Dabei in Paris der Bonnot-Bande, dabei am Ende der russischen Revolution, dabei im Kreml während der Bürokratisierung und den Liquidationen. Fred lebte die Brüche: Syndikalismus, Trotzkismus, Komintern,freie Liebe. Spanien rief zu den Waffen, die nebst Mexiko auch Russland lieferte. Letztere schickten als Zugabe Politkommissare, die verschwinden liessen, um anschließend selbser mit Genickschuss zu enden. Algerien rief zu den Waffen. Da hatte Fred begriffen und propagierte Kriegsdienstverweigerung.
Ich habe häufig geflucht, das es kein Buch gibt, das die Erfahrungen aus Rebellion und Revolution des 20. Jahrhunderts vor 1968 zusammengefasst. Wir wiederholten, was andere schon viel besser verbockten. Erst anschließend, beim kritischen Hinterfragen, kam die Entdeckung der Parallelen zu den früheren Kämpfen. Viele marschierten in die Institutionen und glaubten sich auf dem Weg der Befreiung. Erstzunehmende Kritik an "1968" (bis zu den Autonomen) setzt hier an. "Kein Zweifel, die Macht, und zwar jede Macht, liess die grössten Idealisten zu Robotern mutieren." Doch wer mit dem Finger auf andere zeigt, sollte die drei in die eigene Richtung nie vergessen. In anderen Worten: "Wisst ihr eigentlich, dass ihr gar nicht lustig seid, mit eurer Tugendmasche."
Dieser Roman ist ein guter Einstieg in die vergleichende Krawallkunde. Es ist locker lesbar und eingängig geschrieben. Mit diesem Buch könnte sich etwas ändern. Bis dahin gilt: "Ihr könnt mich mal."

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