ISBN
3-936049-37-8
160 Seiten
14 €
|
Jürgen Mümken (Hrsg.)
Anarchismus in der Postmoderne
Beiträge zur anarchistischen Theorie und Praxis
Mit Beiträgen von Ralf Burnicki, Torsten Bewernitz, Olaf
Kaltmeier, Jens Kastner, Jürgen Mümken und Bernd-Udo Rinas
Der vorliegende Sammelband setzt sich
mit Teilaspekten der anarchistischen Diskurse mit und in der Postmoderne
auseinander.
Postmoderne – Globalisierung – Neoliberalismus haben die gesellschaftlichen
Realitäten und deren Wahrnehmung verändert, so dass einige
der Voraussetzungen des klassischen Anarchismus überholt sind und
in Frage gestellt werden müssen. Der Staat, das Kapital, das Patriarchat
usw. haben ihr Gesicht verändert. Begriffe wie Freiheit und Autonomie
stehen im Zentrum der neoliberalen Herrschaft. Das Vokabular der Moderne
reicht zur Analyse und Kritik gegenwärtiger Gesellschaften nicht
mehr aus, denn veränderte Verhältnisse verlangen eine neue
Sichtweise. Die Aufgabe anarchistischer Kritik ist es, einen Diskurs über
die Krise zu entwickeln, der nicht symmetrisch zum herrschenden Diskurs
verläuft.
In dem ersten Beitrag Anarchismus in der Postmoderne stellt
Jürgen
Mümken, das Verhältnis des Anarchismus zur Moderne und Postmoderne
dar. Der klassische Anarchismus orientiert sich stark an die Moderne,
die Postmoderne hat die gegenwärtigen Gesellschaften und die Sichtweise
auf diese verändert. Eine anarchistische Theorie muss diesen Prozess
reflektieren. Der von Mümken vorgestellte Postanarchismus ist eine
mögliche Form der Reflektion und der Weiterentwicklung anarchistischer
Theorie und Praxis. Das Subjekt, die Macht und andere Felder werden mit
Hilfe poststrukturalistischer Theorie im Anarchismus neu gedacht.
Mit dem anarchistischen Staatsverständnis unter neoliberalen Bedingungen
beschäftigt sich Jens Kastner in seinem Beitrag Autorität,
Verhältnis, Effekt gegen Repräsentation und Gewaltmonopol,
denn auch Angesichts der neoliberalen Umstrukturierungen bleibt der
Staat ein entscheidender Akteur des politischen Feldes. Kastner stellt
das Staatsverständnis der klassischen Anarchisten Bakunin und Landauer
vor, um sich dann Foucault, Agamben und Boltanski/Chiapello zu zuwenden.
Bei Foucault steht der Staat als Effekt von Machtverhältnisses im
Zentrum und bei Agamben der Ausnahmezustand als Antwort der Staatsgewalt
auf die aktuelle Krisensituation. Boltanski/Chiapello beschreiben die
Ver- und Anwendung zentraler Vokabeln wie Selbstverwaltung eines ehemals
libertären Milieus im herrschenden Diskurs des Neoliberalismus.
Kastner konstruiert entlang der Kritik am Gewaltmonopol sowie der Repräsentationskritik
eine Linie vom klassischen Anarchismus zur postmodernen Theorie.
In Anarchismus, Neoliberalismus und Die Befreiung der Gesellschaft
vom Staat geht Jürgen Mümken der Differenz zwischen einem
anarchistischen und neoliberalen Freiheitsbegriff nach. Indem der Neoliberalismus
prinzipiell alles den gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen überlässt,
suggeriert er neue Freiheiten. Der ökonomische Nutzen definiert
die neoliberale Freiheit. Der Beitrag zeigt auf, dass die neoliberale
antistaatliche Rhetorik nichts mit einer anarchistischen Antistaatlichkeit
und Freiheitskonzeption zu tun hat.
Auch in einer nichtstaatlichen Gesellschaft müssen Entscheidungen
getroffen werden. So stellt Ralf Burnicki in Anarchismus und Konsens den
Konsens als ein Entscheidungsbeispiel für eine herrschaftslose
„postmodernitäre“ Gesellschaft vor. Eine anarchistische Entscheidungstheorie
opponiert gegen die Formen der politischen Repräsentation und gegen
das Mehrheitsprinzip gegenwärtiger Demokratien. Für Burnicki
verkörpert das neo-anarchistische Konsensprinzip die Aussicht auf
ein Entscheidungsmodell, das in klassische Revolutionsbestrebungen des
Anarchismus integriert werden kann als ein ideales Entscheidungsmodell
einer künftigen Gesellschaft der Freien (Heterogenen) und Gleichberechtigten.
In einem weiteren Beitrag befasst sich Torsten Bewernitz mit den Problemen
des Klassenkampfes in der Postmoderne aus einer anarchosyndikalistischen
Perspektive. Die Differenz zwischen anarchosyndikalistischen und postmodernen
Ansätzen scheint in der von den anarchosyndikalistischen Gewerkschaften
und Gewerkschaftsinitiativen betriebenen Identitätspolitik bzgl.
der Klassen zu liegen, die einem postmodernen identitätskritischen
Ansatz entgegenzustehen scheint. Bewernitz zeigt in seinem Beitrag, dass
dies nicht so sein muss. Ausgehend von dem Verständnis von Klassen
bei Marx, Bourdieu und im Anarchosyndikalismus geht er der Frage nach,
ob es noch Klassen in der Postmoderne gibt, dabei wird das Problem von
Klasse und Identität nicht ausgeblendet. Die Theorien von Foucault,
Gramsci, Derrida und Butler sind weitere Bezugspunkte bei der Beschäftigung
mit den Problemen der Klasse und des Klassenkampfes.
Am Beispiel der Mapuche-Bewegung in Chile zeigt Olaf Kaltmeier in Auf
Suche nach der Anarchie eine poststrukturalistische Perspektive
auf herrschaftsfreie Gesellschaften und widerständige Gemeinschaften.
Dabei ist sich Kaltmeier der Problematik bewusst, dass auch libertäre
Ansätze nicht davor gefeit sind, fremde Gesellschaften einfach als
ein herrschaftsfreies Fundstück vorzuführen, ohne den problematischen
eigenen Status zu thematisieren. Ihm geht es um die Betrachtung verschiedener
Ansätze zum Umgang mit „herrschaftsfreien Gesellschaften“. Illustriert
hat er es am Beispiel der Mapuche in Chile. Die Bedeutung des Anderen
im Anarchismus gehört zu dieser Fragestellung.
Mit dem Zapatismus am 1. Januar 1994 hat ein neues „Gespenst“ die Weltbühne
betreten. In Karl Marx und andere Gespenster oder: Eine Neue Internationale
der Hoffnung geht Torsten Bewernitz der Frage nach, ob der Dekonstruktivismus
die dem Zapatismus angemessene Theorie ist, dabei bezieht er sich auf
„Marx’ Gespenster“ von Jacques Derrida. In diesem Buch nennte Derrida
drei Gründe, Marx neu zu lesen: die Neue Internationale, der Messianismus
und eine radikale Kritik. Und diese neue Lektüre Marx’ mit Derrida
führt, laut Bewernitz, direkt zu den zapatistischen Grundgedanken
der EZLN, wenn wir anarchistische Grundgedanken wie die Antistaatlichkeit
mitdenken.
Im letzten Beitrag Postmoderne – Veganismus – Anarchismus geht
Bernd-Udo Rinas der Frage nach einem nicht-anthropozentrischen, postmodernen
und
dekonstruktiven Anarchismus nach. Er will damit eine notwendig erscheinende
Debatte über ein zeitgemäßes anarchistisches Selbstverständnis
eröffnen. Anarchistische Gesellschaftskritik kann demnach nur dann
zeitgemäß und fortschrittlich sein, wenn sich der eigene
theoretische Standpunkt in gleichem Maße hinterfragt und postmodern
dekonstruiert wird. Deshalb müssen in der Folge bisher gültige
anarchistische Grundaussagen durchaus in Frage gestellt werden. Der Beitrag
von Rinas möchte einen Gedankenbaustein für eine mögliche
Diskussion liefern, in der deutlich wird, welches theoretische Potential
der Anarchismus besitzt, aber auch, von welchem Teil er sich trennen
müsste, wenn er sich als Gegenkraft behaupten will. Es geht Rinas
um Verknüpfungspunkte zwischen Veganismus, Postmoderne und Anarchismus,
da für ihn im Veganismus erste Verwirklichungsschritte eines postmodernen
Anarchismus angedeutet werden.
Diese Beiträge sollen dazu Beitragen die Diskussion über
eine Aktualisierung
anarchistischer Theorie und Praxis voranzutreiben. Den Autoren ist
bewusst, das die Beiträge im Buch nicht alle notwendigen Bereiche abdecken,
es fehlt zum Beispiel eine anarchafeministische Auseinandersetzung mit
dem Postfeminismus in Anschluss an Judith Butler. Diese und andere Themen
können und müssen aufgegriffen und somit theoretische Lücken
geschlossen werden.
Weitere Bücher zum Thema bei Edition AV:
Ralf Burnicki: Anarchismus
und Konsens
Jürgen Mümken: Freiheit,
Individualität und Subjektivität
Web-Link zum Thema: Postanarchismus.net
Rezension
Stefan Paulus: Anarchismus in der Postmoderne. Ein Buchbesprechung,
unveröffentlicht mehr ...
Thorsten Hallman: "Anarchismus in der Postmoderne"
in: Semesterspiegel - Zeitung der Studierenden an der Universität
Münster Nr. 356/2005 mehr ...
Stefan Paulus: Anarchismus
in der Postmoderne
Der Sammelband „Anarchismus in der Postmoderne“ setzt
sich mit Teilaspekten anarchistischer und poststrukturalistischer
Theorien auseinander. Ziel dieses Bandes ist es, die, durch
die Veränderung der kapitalistischen Strukturen hervorgegangen,
gesellschaftlichen Zusammenhänge neu zu beurteilen
und veraltete anarchistische Analysekonzepte in Frage zu
stellen. Denn nicht nur die Nationalstaaten und die Kapitalverwertungsbedingungen
haben ihre Form verändert, sondern auch die Ideen
von Freiheit und Autonomie sind Teil eines neoliberalen
Diskurses geworden, um Menschen dazu zu bringen ihre Träume
und Wünsche nach Selbstbestimmung als ein herrschaftsstabilisierendes
Element einzubauen. Weil die kapitalistische Globalisierung
mit ihrem neoliberalen Gesicht die gesellschaftlichen
Realitäten
und deren Wahrnehmung verändert, ist die zentrale These
dieses Bandes, dass das Vokabular des klassischen Anarchismus
nicht mehr zur Analyse und Kritik gegenwärtiger Gesellschaften
ausreicht.
An dieser Stelle setzt auch der erste Beitrag „Anarchismus
in der Postmoderne“ von Jürgen Mümken an: Mümken
erläutert, dass der aktuelle Anarchismus noch stark an
den Idealen der Modere verhaftet ist. Aufklärung, Vernunft,
Fortschritts- und Technikgläubigkeit, Objektivität
und die Vorstellung eines bürgerlich-autonom handelnden
Subjekts sind wesentliche Bestandteile der Modernen Ideologie.
Mümken stellt dabei Fragen danach, welchen Zweck, welchen
Wahrheitsanspruch diese Kategorien erfüllen. Postmoderne
Ansätze versuchen moderne Kategorien radikal Infragezustellen,
zu dekonstruieren und ihre herrschaftssichernde Funktionen
offen zu legen. Diesen Ansatz, so Mümken, müsste
auch die aktuelle anarchistische Theorie und Praxis leisten.
Eine mögliche Form der Reflexion und der Weiterentwicklung
der momentanen anarchistischen Analyseversuche ist der in
diesem Beitrag vorgestellte Ansatz des Postanarchismus.
Der darauf folgende Beitrag „Autorität, Verhältnis,
Effekt gegen Repräsentation und Gewaltmonopol“ von Jens
Kastner setzt sich mit dem anarchistischen Staatsverständnis
unter neoliberalen Vorzeichen auseinander. Kastner verdeutlicht
mit den Konzepten von Bakunin, Landauer, Foucault, Agamben,
dass staatliche Regierungsweisen nicht ausschließlich
repressiv sind und auf Zwang und Bedrohungen beruhen, sondern,
dass der Staat ebenso ein Verhältnis, ein freiwillig
von Individuen mitgetragenes Gewaltmonopol ist, das durch
Bestechungen und Konsens reproduziert wird. Der Beitrag von
Kastner schließt mit der spannenden Frage: „Wenn Freiheit
selbst ein Teil gouvernementaler Führung geworden und
als Gegenbegriff zum Staat in Zweifeln geraten ist, was kann
dann den offensichtlich vorhandenen Herrschaftsverhältnissen
entgegengehalten werden“ (Kastner: 37f) ?
Dieser Denkweise folgt auch der anschließende Beitrag
von Mümken „Anarchismus, Neoliberalismus und Die Befreiung
der Gesellschaft vom Staat“. Mümken geht der Differenz
zwischen einem anarchistischen und neo-liberalen Freiheitsbegriff
nach und kommt zu einem keineswegs überraschenden aber
diskussionswürdigen Fazit.
An der Idee wie in einer herrschaftslosen Gesellschaft Entscheidungen
getroffen werden könnten, setzt der Text von Ralf Burnicki
„Anarchismus und Konsens“ an. Dieser Text ist allerdings nicht
nur ein theoretisches Denkspiel, sondern bietet auch konkrete
Handlungsmöglichkeiten an, wie (Gruppen-) Entscheidungen
außerhalb von Konkurrenz, Hierarchien und Bevormundungen
getroffen werden könnten.
Zentral für eine anarchosyndikalistische Auseinandersetzung
mit postanarchistischen Ansätzen bietet der Beitrag „Klasse
von Gewicht? Probleme des Klassenkampfes in der Postmoderne“
von Thorsten Bewernitz. Bewernitz fragt danach, wo die Probleme
des Klassenkampfes zu finden sind, ob es noch Klassen in der
Postmoderne gibt bzw. ob überhaupt noch ein Klassenbewußtsein
im neoliberalen Kapitalismus existiert und ob für eine
radikale Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse
ein revolutionäres Subjekt notwendig ist. Bewernitzs
Analysen bieten nicht nur eine spannende Diskussionsgrundlage
zur Erneuerung anarchosyndikalistischer Konzepte, sondern
sind auch eine Antwort auf die phlegmatischen Phrasen angestaubter
AnachosyndikalistInnen, denn „Klassenkampf ist der Kampf darum,
nicht klassifiziert zu werden“ (Bewernitz: 92).
Die folgenden Beiträge von Olaf Kaltmeier „Auf der Suche
nach Anarchie. Poststrukturalistische Perspektiven auf herrschaftsfreie
Gesellschaften und widerständige Gemeinschaften“ und
von Thorsten Bewernitz „Karl Marx und andere Gespenster oder:
Eine Neue Internationale der Hoffnung“ finden libertäre
Ansätze bei der Mapuche-Bewegung in Chile und den aufständigen
Zapatisten in Mexiko. Hervorzuheben hierbei ist Kaltmeiers
poststrukturalistische Herangehensweise, welche aufzeigt,
dass es keine herrschaftsfreien Gesellschaften mehr gibt und
dass selbst die Beschreibung von „anderen“ Gesellschaften,
„eigene“ Vorstellungen beinhaltet und diese dadurch schon
von Machtverhältnissen und Herrschaftstechniken durchzogen
sind. Gerade dieses Dilemma ist aber eine libertäre Herausforderung,
um einen vielfältigen, differenzierten bzw. einen „polyphonen
und ent-werkten Kommunismus zu denken“ (Kaltmeier: 118). Die
Politik der EZLN greift verschiedene Perspektiven auf, indem
sie solche Wir/Ihr Dualismen dekonstruiert, indem sich die
ProtagonistInnen maskieren und so „wissen wir nicht, ob hinter
der Maske (des Subcomandante Marcos, der EZLN,...) der/die
chiapanekanische Indigene, der Schwule/die Lesbe in San Fransisco,
der/die Schwarze in Südafrika, der/die AsiatIn in Europa,
der/die AnarchistIn in Spanien 1936, der/die GewerkschaftlerIn
in einer Maquiladora, der/die PazifistIn in Bosnien, der/die
Bauer/Bauerin ohne Land steckt“ (Bewernitz: 134).
Der letzte Beitrag von Bernd-Udo Rinas „Postmoderne-Veganismus-Anarchismus.
Andeutungen zu einem nicht-anthropozentrischen, postmodernen
und dekonstruktivistischen Anarchismus“ schließt einerseits
Konsequent an der politischen Philosophie des Poststrukturalismus
an, nämlich „Tier-Werden, Schwarz-Werden, Frau-Werden“
(Gabriel Kuhn), bietet andererseits wiederum ein normatives
Ideal, wenn im „Veganismus erste Verwirklichungsschritte eines
postmodernen Anarchismus angedeutet werden“ (Mümken:
9).
Insgesamt ist dieser Sammelband ein gelungener Beitrag zur
Diskussion über die Aktualisierung anarchistischer Theorie
und Praxis. Gerade die herrschaftskritischen Ansätze
poststrukturalistischer Arbeiten und ihrer immanenten Kritik
der scheinbaren Natürlichkeit gesellschaftlicher Ordnungen
und Denkformen ermöglichen die theoretischen Lücken
des klassischen Anarchismus zu schließen. Auch der Verlag
Edition AV hat Mut bewiesen, diese längst überfälligen
Erneuerungsversuche einer breiten Öffentlichkeit zu kommen
zu lassen. Kritisch lässt sich anmerken, dass in diesem
Sammelband keine explizite Auseinandersetzung mit feministischen
Inhalten stattgefunden hat, denn gerade poststrukturalistische
Diskurse basieren auf Überlegungen zur Dekonstruktion
von binären Geschlechtsidentitäten, sowie auf der
Kritik der Geschlechterverhältnisse als Herrschaftsverhältnisse.
Dieses Fehlen verdeutlicht wichtige offene Stellen um die
Theorie des Postanarchismus voranzutreiben.
Thorsten Hallman
Anarchismus in der Postmoderne
Die Postmoderne, so scheint’s, ist nach wie vor ein Pudding
im politischen Koordinatensystem der Linken, oft geschmäht
als theoretisch-methodische Beliebigkeit, passend zum bastelbiographischen
Individualismus linksliberaler Lifestyle-Eliten. Kein Schwarz-Weiß,
keine Wahrheit, nicht wie beim guten alten Marx alles fein
logisch abgeleitet bis zum bitteren Ende und zum geschlossenen
Weltbild.
Das von Jürgen Mümken herausgegebene und im Frühjahr
im Frankfurter Verlag Edition AV erschienene Bändchen
„Anarchismus in der Postmoderne“ versucht, linkslibertäres
(antikapitalistisch-antiherrschaftliches) Denken und Handeln
anhand der unter „Postmoderne“ subsumierten Debatten und Theorieströmungen
zu aktualisieren. Der Buchtitel verleitet sprachlich jedoch
zu Kurzschlüssen, in dem er einen Anarchismus in eine
Beziehung zu einer Postmoderne setzt. Tatsächlich schlagen
die sechs Autoren (!) in acht Beiträgen einen weiten
Bogen verknüpfen sehr unterschiedliche Aspekte linker
Theorie und Praxis zu einem dichten und keinesfalls widerspruchsfreien
Geflecht.
Die Postmoderne wird zunächst als - keineswegs „beliebige“
- theoretische Strömung betrachtet, die dezidiert jeden
Wahrheits- und Objektivitätsanspruch, nicht jedoch moralisch
begründete Kritik der Gesellschaft verneint, und sich
zum Zwecke des Verständnis dieser den kognitiven, sprachlichen
und kulturellen Praktiken der Selbstkonstitution und Machtausübung
zuwendet. Hierzu zählen etwa Poststrukturalismus, Dekonstruktivismus
und Postfeminismus (Michel Foucault, Jacques Derrida, Judith
Butler...). Zeitdiagnostisch hingegen zählen zur Postmoderne
neue hegemoniale Regime (Neoliberalismus, Biopolitik) und
womöglich eine neue Form der Widerständigkeit –
etwa der Zapatismus als „erste Rebellion des 21. Jahrhunderts“.
Am anderen Pol des Beziehungsgeflechts geht es nicht nur um
den klassischen Anarchismus, sondern auch um Klassenkampf,
Veganismus, traditionell-herrschaftsfreie Gesellschaften und
wiederum Zapatismus – mancher land-, besser stadtläufige
Anarchist würde dies alles als überaus unanarchistisch
geißeln. Das nur nebenbei.
Aber halt, da fehlt doch was? Im klassischen Anarchismus sträflich
unterbelichtet, jedoch in der Postmoderne kaum zu umgehen:
die Geschlechterfrage. In diesem Band finden sich nur ziemlich
beiläufige Annäherungen daran, etwa auf dem Umweg
über Veganismus und Anthropozentrismus statt. Ansonsten
klafft hier eine Lücke, wie die Autoren selbst zugeben.
Das ganze Unterfangen ist dennoch lohnens- und das Buch sehr
lesenswert. Die Beiträge von Torsten Bewernitz, Ralf
Burnicki, Olaf Kaltmeier, Jens Kastner, Jürgen Mümken
und Bernd-Udo Rinas bieten meist theoretisch fundierte, differenzierte
und oft praxisnahe Reflexionen des Diskussionsstands und Impulse
zum Weiterdenken für eine außer- bis antiparlamentarische
linke Perspektive.
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